Presseberichte

Bericht zum Turnier in Imperia

 

Tagebuch Sousse 1.11. bis 8.11.2010

Montag, 01.11.2010:
Endlich wieder Openzeit! Aber es ist nicht irgendein Open. Ich freue mich schon lange auf mein erstes Turnier in meinem Lieblingskontinent Afrika! Im Januar 2010, als ich am Weltklasse-Open in Gibraltar teilnahm, war ich schon ganz nah dran. Vom berühmten Felsen konnte ich bis zur afrikanischen Küste blicken. Aber nun werde ich tatsächlich afrikanischen Boden betreten, um an einem Schachturnier teilzunehmen.

Der Tag der Abreise ist gekommen. Per Bus und S-Bahn fahre ich zum Flughafen. Die erste Etappe verläuft reibungslos. Kurz nach 10:30 treffe ich am Terminal 1 ein und begebe mich umgehend zum Tunis Air Schalter, um einzuchecken.

Selbstsicher lege ich mein ausgedrucktes e-Ticket sowie meinen Personalausweis vor. Die Dame fragt mich, ob ich eine Pauschalreise gebucht habe. Zum Glück stehe ich auf der Leitung und sage zunächst nichts, worauf sie erklärt: „Wenn Sie eine Pauschalreise gebucht haben, genügt der Personalausweis. Haben Sie dagegen nur den Flug gebucht, brauchen Sie einen Reisepass!“ „Ja, ja, natürlich habe ich eine Pauschalreise gebucht“, lüge ich hastig. Ich hoffe inständig, dass sie nicht nach Unterlagen eines Reiseveranstalters fragt. Dann wäre die Reise bereits zu Ende, bevor sie beginnt! Aber die Blondine blieb stumm. Welch ein unglaubliches Glück!

Dabei hatte ich mir im Vorfeld angelesen, dass für einen so kurzen Zeitraum wie in meinem Fall ein Personalausweis auf jeden Fall ausreicht. Ich war mir also keiner Schuld bewusst. Fest steht aber, dass ich künftig im Zweifel immer zum Reisepass greifen werde.

Statt um 11:50 hebt die Boeing 737 erst um 12:15 ab, setzt aber sicher gegen 14:20 auf der Landebahn in Tunis auf. Mit dem Turnierveranstalter ist vereinbart, dass ich abgeholt und ins 130 Kilometer entfernte Feriengebiet bei Sousse gefahren werde. Aber zunächst muss ich versuchen, aus dem Flughafen zu kommen, was eine bemerkenswert langsame Passkontrolle ziemlich genau eine dreiviertel Stunde zu verhindern weiß! Hinzu kommt, dass es viel zu wenig Schalter gibt. Beim Beobachten der Arbeitsweise der Kontrollbeamten schläft mir das Gesicht ein. Ich frage mich, wie lange die Jungs wohl brauchen, wenn sie einen der neuen riesigen Airbusse abfertigen müssen!? Nicht auszudenken!

Eilig strebe ich zum Gepäckband, um meinen Koffer abzuholen. Gerade kommt er langsam hereingefahren. Wenigstens etwas, was gut klappt. Obwohl ich mein Sweatshirt längst ausgezogen habe und meine warme Winterjacke in der Hand trage, schwitze ich wie ein Stier! Kein Wunder, es hat 23°, und die Luft im Flughafen ist stickig und verbraucht. Am Ausgang halte ich Ausschau nach meinem Fahrer. Es stehen zwar mehrere Tunesier mit Namensschildern da, aber meinen Namen kann ich nicht entdecken. Nach einigen Minuten bangen Umherblickens spricht mich ein Herr an: „Are you Stefan Winkler?“ Yes!“ Erleichterung macht sich breit.
Der Fahrer fragt, ob ich die Durchsage, die er veranlasst hat, nicht gehört hätte. Ich sollte zum Information desk kommen. Ich erwiderte, dass ich gar nicht auf eine Durchsage geachtet hätte, weil ich nicht im Entferntesten mit so etwas gerechnet habe. Kurz darauf klettere ich in einen außen und innen verdreckten Kleinwagen, dessen Motor nicht gerade vertrauenswürdig klingt. Egal, Hauptsache die Kiste fährt! Der Fahrer eröffnet mir, dass er mich hier in Tunis an einen Punkt bringt, von wo aus ich per Sammeltaxi nach Sousse in mein Hotel gelange.

Es stellt sich heraus, dass er mit dem Turnierveranstalter in Sousse befreundet ist. Meine Abholung sieht er als Freundschaftsdienst. Überhaupt kostet mich der Transfer hin und zurück nichts. Das ist Dienst am Kunden! Wir kommen immer besser ins Gespräch und er eröffnet mir, dass er der technische Direktor des tunesischen Schachverbandes ist und als Spieler an insgesamt zehn Schacholympiaden teilgenommen hat! Zum wohl letzten Mal trat er vor vier Jahren in Turin für sein Land an. Er besitzt den FM-Titel und hat eine ELO-Zahl von 2335!

Ich frage ihn, wie Tunesien bei der gerade zu Ende gegangenen Olympiade in Khanty Mansisk abgeschnitten hat. Er erwidert betrübt, dass nur eine Damenmannschaft teilgenommen hat. Der verantwortliche Nationaltrainer, GM Bouaziz (60), der als ganz junger Spieler am legendären Interzonenturnier in Sousse 1967 zusammen mit Bobby Fischer teilgenommen hat, hielt die Ergebnisse seiner Schützlinge im Vorfeld der Olympiade für nicht ausreichend. Deshalb wurde bedauerlicher Weise auf ein Herrenteam verzichtet.

Nach 15-minütiger Fahrt durch das Verkehrsgetümmel erreichen wir die Rue de Turquie, also die Türkenstraße, aber nicht die Türkenstraße in Schwabing, sondern die in Tunis! Der FM geht zum ersten der dort wartenden Taxifahrer und erklärt ihm, dass er mich in seinem Achtsitzer nach Sousse mitnehmen soll. Er erhält die Telefonnummer des Turnierveranstalters, damit er am Ende auch zu seinem Geld kommt. Mein Gepäck wird hinten im kleinen, dreckigen Kofferraum verstaut, und ich quetsche mich auf den Mittelsitz der Rückbank zwischen zwei tunesische 2-Meter-Schränke! Das kann ja heiter werden, in den nächsten zwei Stunden. Immerhin bin ich der Letzte von acht Fahrgästen, Dadurch geht es ohne Wartezeit los.

Rochade-Schmökern ist angesagt. Allerdings fallen mir durch das ständige Wackeln und die ungewohnte Wärme schon bald die Augen zu. Später setze ich das Lesen fort, um so die eintönige Fahrt zu überbrücken. Zu sehen gibt es nämlich kaum etwas. Flache, hässliche Landschaft wechselt sich mit einheitlichen Betonbauten ab.

Gegen 17:45 erreichen wir eine riesige, scheußliche, schmuddelige Halle mit schmaler Hintereinfahrt sowie Ausfahrt an der Kopfseite. Hier warten um die einhundert Sammeltaxis auf Kundschaft. Es gibt acht Zielorte, die auf großen Schildern angezeigt werden. Der Fahrer wählt die erhaltene Handynummer, spricht einige Sätze auf Arabisch und reicht mir dann das Handy herüber. Ich habe den Präsidenten des Schachclubs Sousse am Apparat, der mir versichert, dass ich in zehn Minuten abgeholt würde. Schon in diesem Moment habe ich ein komisches Gefühl…

Ich warte fünf Minuten, ich warte zehn Minuten. Ein kleiner, älterer, unrasierter Tunesier spricht mich an: „Sprechen Sie deutsch?“ „Ja.“ „Haben Sie fünf Dinar für mich?“ „Nein, leider nicht.“ „Danke.“ Er trollt sich. Das ist also nicht mein Fahrer für die letzte Etappe, sondern der erste Bettler, der mir in Tunesien begegnet! Meine Wirbelsäule beginnt zu schmerzen, also laufe ich einige Schritte auf und ab, aber ohne mich mehr als drei Meter von Koffer samt Laptop zu entfernen.

Ungefähr nach einer halben Stunde fragt mich einer der wartenden Taxifahrer, ob ich nach Tunis möchte. „Danke, da komme ich gerade her,“ gebe ich ihm freundlich auf Englisch zurück. Ich laufe weiter auf und ab, beobachte die Szenerie an diesem unschönen Ort und überlege mir, ob ich einen der Taxifahrer nach dessen Handy fragen soll. Ich habe die Telefonnummer des Schachpräsidenten notiert, aber mein Mobiltelefon daheim gelassen, weil es im Ausland nicht funktioniert. Langsam mache ich mir ernsthaft Sorgen, ob ich überhaupt noch abgeholt werde und suche gedanklich nach Alternativlösungen.

Eine Option ist auch, mich von einem Taxi ins Hotel fahren zu lassen. Tunesische Dinar habe ich zwar noch nicht umgetauscht, aber Euros werden sicher auch gerne genommen. Wenn ich wenigstens wüsste, wie lange diese Fahrt dauern würde. Inzwischen ist eine Dreiviertelstunde vergangen, es ist längst dunkel, und ich habe genug. „Eine Viertelstunde warte ich noch“, brabble ich vor mich hin. In diesem Moment taucht ein gut gekleideter junger Tunesier vor mir auf und entschuldigt sich in bestem Englisch vielmals für die Verspätung. Sein Auto habe intensiv nach Benzin gestunken, so dass er sich genötigt sah, zu einem Freund zu fahren, der den Wagen überprüfte.

Na gut, ich bin froh, dass überhaupt jemand gekommen ist und dass Aussicht besteht, die Fahrerei endlich abzuschließen. Der dritte Fahrer des heutigen Tages ist der Sohn des Turnierveranstalters. Er teilt mir mit, dass ich einer von vier deutschen Spielern bin. Insgesamt würden 100 Schachspieler teilnehmen. Über diese Information bin ich erleichtert, denn das war die große Unbekannte der letzten Wochen. Im Internet standen immer nur die sechs Namen der teilnehmenden Titelträger. Das gesammelte Teilnehmerfeld suchte ich dagegen vergeblich.

Die Fahrt zum Hotel am Meer dauert eine weitere halbe Stunde. Gegen 19:30 treffen wir endlich am Ziel ein. Einchecken, Warten auf den Boy, und nach einem längeren Marsch durch die Hotelkatakomben lege ichendlich die Füße hoch. GESCHAFFT!

Eigentlich liegt der Flughafen Monastir viel günstiger zu Sousse, nämlich nur 30 Kilometer entfernt. Bei der Internetsuche nach einem geeigneten Flug stellte ich aber fest, dass der „günstigste“ Flug schlappe 2.166,- kostete! Ich vermute, dass die Reiseveranstalter alle Charterflüge für ihre Pauschalreisen geblockt haben, so dass „Nur-Flug-Buchungen“ nur zu diesen astronomisch hohen Preisen zu haben sind. Die Obergrenze lag bei mehr als 4.000,- Euro! Aus diesem Grund musste ich wohl oder übel auf das 130 Kilometer entfernte Tunis umschwenken. Dafür gab es den Linienflug mit Tunis Air für rund ein Zehntel des oben genannten günstigsten Preises.

Ich bewohne ein geräumiges Doppelzimmer mit zwei Sofas, einem Couchtisch, einem Fernsehtisch, einem Sideboard mit Sitzmöglichkeit, einem breiten Gang sowie einem großzügig angelegten Badezimmer samt Wanne. Dazu gibt es eine Terrasse mit Tisch und Sitzgelegenheit. Rasch baue ich die Schachfiguren auf und eile Richtung Restaurant, denn fliegen, fahren und warten macht hungrig. All die köstlichen Speisen, die angeboten werden, entschädigen für die Mühen des Tages. Ich lasse es mir richtig gut gehen und inspiziere danach die unmittelbare Umgebung des Hotelkomplexes.

Über einen breiten Weg durch einen Teil der Appartementanlage gelange ich ans Meer. Der stramme Abendwind sorgt für eine aufgewühlte See. Trotzdem herrscht noch T-Shirt-Wetter. Zu sehen ist nicht viel, also schlendere ich wieder Richtung Zimmer. Doch was ist das? Ich kann mit meinem Schlüssel die Tür nicht öffnen! Das darf doch nicht wahr sein! Der Korridor rund um meine Zimmertür liegt im Dunkeln. Zwei Lampen sind defekt. Das ist ein zusätzliches Handicap. Ich brauche erheblich lange, um wenigstens das Schlüsselloch zu finden. Aber dann blockiert das Schloss samt Drehgriff. Ich versuche es unaufhörlich, vor und zurück, mit Anziehen der Tür, Schlüssel nach links und rechts – nichts!

Ob es mir gefällt oder nicht, ich muss wieder die Treppe hinauf zur Rezeption laufen, um Hilfe zu holen. Bis jemand vom Sicherheitsdienst aktiviert ist, dauert es mehr als zehn Minuten. Während dieser Wartezeit stelle ich fest, dass auf dem kleinen Eincheck-Kärtchen, das mir von der Rezeption ausgehändigt wurde, ein falsches Abreisedatum steht, nämlich bereits der 07.11. Ich moniere das, und wenig später heißt es: „No problem!“

Wir gehen gemeinsam hinunter in den dunklen Gang, und ich bin froh, dass es auch dem Helfer lange nicht gelingt, die Tür zu öffnen. Nach geschätzten zwei Minuten heißt es dann doch: „Sesam öffne dich!“ Ich versuche es dann selbst noch ein paar Mal in Anwesenheit des Helfers, um sicher zu gehen, es künftig alleine zu schaffen.

Es ist ein ganz merkwürdiger Mechanismus. Man muss zunächst erheblichen Kraftaufwand investieren, um einen Widerstand zu überwinden. Dabei muss man den Schlüssel in die „falsche“ Richtung drehen, als ob man die Tür verschließen wollte! Damit vermeidet man die Blockade des Schlosses. Eine verrückte Sache, aber nun weiß ich, wie ich das handhaben muss. Hoffe ich jedenfalls… Ich mache mich gleich an die Arbeit, um den ersten ereignisreichen Tag in den Laptop zu tippen. Fazit: Für eine Transferstrecke von 130 Kilometern habe ich vier Stunden gebraucht und dabei drei Fahrer verschlissen! Die Nachtruhe auf einer mehr als akzeptablen Matratze beginnt gegen 23:45.

Dienstag, 02.11.2010:

Gut erholt entsteige ich um 6:50 (!) dem „Schlafsystem“ (eine Wortkreation der deutschen Möbelbranche) und labe mich kurz darauf an dem reichhaltigen Frühstücksbuffet. Direkt im Anschluss mache ich mich auf die Suche nach dem Spielsaal, werde aber nicht fündig. Selbst das Personal weiß nicht, dass in ihrem Hotel am Nachmittag ein sechstägiges Schachturnier mit 100 Teilnehmern stattfinden soll. Nach längerem Herumirren und vielfacher Fragerei gelange ich nach Durchwanderung eines Korridors auf der Erdgeschossebene in ein italienisches Restaurant, das allerdings im Winterhalbjahr geschlossen ist.

Hier könnte das Turnier also stattfinden, allerdings sieht es am frühen Morgen noch so gar nicht nach Schach aus. Es herrscht gähnende Leere, und an solche Dinge wie Auslosung samt anschließender Gegnervorbereitung ist überhaupt nicht zu denken. Also begebe ich mich zurück ins Zimmer (die Tür lässt sich mit meiner gestern erlernten Technik problemlos öffnen!) und beginne mit meinen Schachaktivitäten. Material habe zur Genüge dabei. Ungelesene Schachmagazine, Rochaden, DVDs sowie Bücher.

Vormittags gönne ich mir eine DVD von Alexej Shirov, die die Vorstoßvariante im Caro-Kann behandelt. Um 12:15 werde ich langsam nervös. Ich habe Sorge, den Schlusstermin zur Turnieranmeldung zu verpassen und eile zum stillgelegten italienischen Restaurant. Doch dort sieht es genauso aus wie am frühen Morgen. Knapp drei Stunden vor Beginn der ersten Runde deutet absolut nichts darauf hin, dass hier in Kürze ein Schachturnier beginnen wird.

Also wende ich mich erneut kulinarischen Köstlichkeiten zu. Verschiedene Fisch- und Fleischgerichte werden aufgefahren, dazu eine Menge an Gemüsesorten und bunten Salaten. Und wie man süße Sachen herstellt, wissen die Tunesier auch! Um 13:25 erscheine ich erneut im Turnierraum in spé. Nach wie vor ist kein einziges Brett aufgebaut, keine Uhr eingestellt und kein Mikrofon installiert. Aber zu meiner Erleichterung prangt ein Transparent mit arabischer Schrift über dem Eingang, an dessen rechtem Rand noch ein kleines Schachbrett samt Turm- und Springersymbol Platz hat. Das Turnier wird also stattfinden. Nur wann wird es beginnen? Gewiss nicht um 15:00.

Ich lese einen profunden Eröffnungsbeitrag des rumänischen GM Mihail Marin, der auch für diverse Schachbücher auf allerhöchstem Niveau verantwortlich zeichnet. Um 14:45 gehe ich wieder hinüber und traue meinen Augen nicht. Im Raum befindet sich eine einzige Person! Der dickbäuchige Tunesier gehört dem Schiedsrichterteam an. Er hält mir sogleich einen gerade ausgedruckten neuen Zeitplan unter die Nase.
Fast stolz verkündet er: “The beginning of the 1st round is at 17:00!” Ich frage mich, woher das die anderen 99 Teilnehmer wissen. Wo sind sie alle? Übrigens ist nach wie vor kein einziges Brett aufgebaut.

Den Weg zurück zum Zimmer kenne ich nun zur Genüge. Ich setze mein Eröffnungsstudium fort und investiere anschließend 20 Minuten in eine Ruhepause. Um 16:55 eile ich wieder hinüber. Hast wäre zu diesem frühen Zeitpunkt nun wirklich nicht nötig gewesen! Erstmals treffe ich einen Großteil der anderen Teilnehmer an. Trotzdem sieht es beileibe nicht danach aus, dass es in Kürze losgehen könnte. Es sind 36 Bretter aufgebaut, aber wenn ich die gestrige Information für bare Münze nehme, wonach 100 Teilnehmer gemeldet haben, fehlen noch 14 Bretter samt Figuren und Uhren. Einer der Helfer flucht wild gestikulierend in sein Handy. Ich ahne das Problem schon. Es ist nicht genügend Spielmaterial vorhanden.

Auch die Schiedsrichter tummeln sich hektisch diskutierend rund um den einzigen Laptop. Ich lasse mich an Brett 11 nieder und beginne, das Oktoberheft der Rochade zu studieren. Ich spiele mehrere kommentierte Partien nach und lese ausführliche Buchrezensionen. Gegen 18:00 stehe ich kurz auf und werfe einen Blick auf die hinteren Tische. Tatsächlich ist nun genug Spielmaterial vorhanden. Das heißt aber noch lange nicht, dass jetzt angefangen wird. Immer noch wird versucht, offenbar vorhandene Probleme am Laptop zu lösen.

Ich spiele weitere Partien nach, ehe kurz vor 18:30 das Kommando kommt, die Figuren in die Grundstellung zu bringen. Um 18:33 werden die Paarungen der 1. Runde aufgehängt. Es dauert einige Minuten, ehe ich mich in dem Menschenpulk vor der Liste durchsetzen kann. Das Licht ist schlecht, und ich habe die falsche Brille auf. So ein Mist. Also eile ich noch mal zurück zu Brett 11, wo meine Lesebrille liegt und dann erneut zum Paarungsausdruck. Ich überfliege die Weißkolonne, sodann die rechte Spalte mit den Spielern, die Schwarz haben. Ich finde meinen Namen nicht! „Ganz ruhig bleiben. Du hast bestimmt zu schlampig geschaut und Deinen Namen übersehen“, sage ich zu mir selbst. Also noch mal mit Bedacht: Linke Spalte sorgfältig Zeile für Zeile durchgehen und dann dasselbe noch mal mit der rechten Spalte – NICHTS!

Rasch widme ich mich der ebenfalls ausgedruckten alphabetischen Teilnehmerliste. Schnell ist klar, dass ich tatsächlich nicht als Teilnehmer geführt werde und somit natürlich auch nicht ausgelost bin! Ich eile an den Tischen vorbei in Richtung Turnierleitung. Viele Spieler haben ihre Namen und die ihrer Gegner bereits in die Partieformulare eingetragen. Sie sitzen sich gegenüber und warten, dass es los geht.

Ich überbringe dem Hauptschiedsrichter die Alptraummeldung. Er fragt nach meinem Namen. Ich notiere ihn samt Vornamen und füge meine ELO hinzu. Tatsächlich ist mein Name nirgendwo registriert, dabei habe ich mich schon Anfang September angemeldet! Und dass ich angekommen bin, hätten sie auch wissen müssen. Schließlich haben mich gestern drei Fahrer mühevoll aus Tunis herüber gekarrt!


Es dauert eine weitere Viertelstunde, ehe ich in die Teilnehmerliste eingereiht bin. Dann kann endlich die neue Auslosung ausgedruckt werden. Ungefähr 80% der Partieformulare müssen neu verteilt werden, da sie mit falschen Namen beschrieben sind. Manche Paarungen bleiben zwar gleich, aber die Farbverteilung wechselt. Die Masse der tunesischen Teilnehmer bleibt ganz ruhig. Die sind das wohl gewohnt.

Gegen 19:00 beginnt eine wichtige Frau auf Arabisch zu sprechen. Sie begrüßt alle Teilnehmer (glaube ich jedenfalls) und lobt den Helfer über den grünen Klee, der das restliche Spielmaterial beigebracht hat. Tosender Applaus! Der Oberschiedsrichter fügt auf Arabisch und Französisch einige Sätze hinzu, bevor ich um 19:08 die Uhr meines Gegners in Gang setze. Wir haben also eine mehr als vierstündige Verspätung! Eine derartige organisatorische Fehlleistung habe ich in meiner nunmehr 37-jährigen Schachpraxis nicht einmal annähernd erlebt!

Angeblich findet dieses Turnier bereits zum 18. Mal statt. Ich frage mich, wie das beim ersten Mal ausgesehen haben mag? Oder wie war es, als die Computerauslosung Premiere hatte? Und warum müssen sich alle Teilnehmer, auch die Vorangemeldeten, nicht vor Ort alle noch einmal schriftlich auf einem Formular anmelden, so wie das bei uns gang und gäbe ist? Das sind doch elementare Dinge im Rahmen eines Schachturniers!

Bei mir ist die Luft raus. Ich habe gar keine Lust mehr. Das Abendessen fällt aus, da das Buffet nur bis 21:00 geöffnet ist und morgen drohen um 9:00 und um 16:00 zwei weitere Runden. Jedenfalls steht das so in der Ausschreibung… Keinem der 123 Teilnehmer, die schließlich an den Start gehen, wird vorher das Startgeld abverlangt. Vielleicht müssen die Einheimischen nichts zahlen. Denkbar ist alles.

Im Turnierraum herrscht eine Atmosphäre fast wie auf einem Bazar. Obwohl Handyverbot herrscht, klingeln die Dinger während der gesamten Runde in schöner Regelmäßigkeit und in den verschiedensten Melodien. Spieler, die ihre Partie beendet haben, schalten ihre Geräte wieder ein und kiebitzen bei anderen Partien. Nicht selten klingelt es während der Zeitnotphase eben bei diesen Kiebitzen. Eine haarsträubende Disziplinlosigkeit! Und die Turnierleitung? Sie tut nichts, um all dies zu unterbinden.

Lärmende Kinder, die am Turnier teilnehmen, rennen während der Runde völlig ungehemmt zwischen den Tischen herum, ohne dass ihnen ernsthaft Einhalt geboten wird. Aber auch Erwachsene diskutieren nach Beendigung ihrer Partie nicht einmal im Flüsterton, sondern laut vernehmbar über die Ereignisse am Brett. Einen Analyseraum gibt es nicht. Später dringt von draußen laute Musik herein. Unweit des Saales hat die Disco ihre Pforten geöffnet!

In der Partieverlängerungsphase, in der es 30 Sekunden Bonuszeit pro Zug gibt, beginnt plötzlich Musik aus den Deckenlautsprechern zu spielen, die natürlich auf die Schnelle nicht zu stoppen ist. Einer der Schiedsrichter eilt nach draußen, um diesem Spuk ein Ende zu setzen, was immerhin nach geschätzten fünf Minuten gelingt. Ich möchte nicht wissen, wie viele Partien während dieser fünf Minuten verdorben werden. Nie habe ich unter solch unerträglichen Bedingungen gespielt! So ein Turnier dürfte niemals über die FIDE ausgewertet werden!

Ich spiele mit Schwarz gegen einen jugendlichen Franzosen mit 1771 ELO. Er bringt das Londoner System aufs Brett, womit ich überhaupt kein Problem habe. Mühelos erreiche ich Ausgleich. Mehr noch, er wirft mir einen Bauern in den Rachen, den ich freudig herunterschlucke. Danach ist es dann aber bald vorbei mit der Herrlichkeit. Ein schwacher Zug genügt, und die Initiative geht an Weiß über. Und der Mehrbauer ist auch wieder weg.

Es entsteht ein Doppelturmendspiel mit gleicher Bauernanzahl, das ich an mehreren Stellen misshandele. Dazu schlage ich anfangs dieses Endspiels, stur wie ich bin, ein Remisangebot aus, das ich lieber hätte annehmen sollen. Er dringt mit beiden Türmen auf die 7. Reihe ein und kreiert ständig Mattdrohungen, die ich schließlich nicht mehr alle parieren kann. Nach dreieinhalbstündiger Spieldauer ist der SUPERGAU perfekt. Ich bin restlos bedient und würde am liebsten heimreisen. Ich gebe die Partie ein und aktualisiere das Tagebuch. Nachtruhe um 0:45. 0 aus 1.

Mittwoch, 03.11.2010:
Ohne Wecker wache ich gegen 7:20 auf. Sofort setzte ich mich an den Laptop und füge einige wichtige Begebenheiten ins Tagebuch ein, die ich gestern vergessen habe. Es waren aber auch derart viele Unzulänglichkeiten, dass ich unmöglich alle behalten konnte. Für später nehme ich mir vor, den Präsidenten des hiesigen Clubs und Veranstalter des Turniers, Herrn Tahar, ausfindig zu machen und ihn dringend zu bitten, meinen Transfer am kommenden Montag verbindlich vorzubereiten. Insbesondere will ich wissen, wer mich fahren wird und um welche Uhrzeit man sich wo trifft. Darüber hinaus will ich, dass der direkte Weg vom Hotel zum Flughafen in Tunis genommen wird, ohne jeglichen Zwischenstopp. Ich habe nämlich überhaupt keine Lust, einen oder gar noch mehr Tage zusätzlich in Tunesien zuzubringen!

Zum frühstücken verbleibt immer noch genügend Zeit. Eine Minute vor 9:00 verlasse ich das Zimmer in Richtung Spielsaal. Ich bin sehr gespannt, ob die Runde schon um 11:00 beginnen wird oder doch erst nachmittags! Als ich wenige Sekunden nach 9:00 den Raum betrete, bin ich angenehm überrascht. Der Hauptschiedsrichter ist gerade dabei, die Runde freizugeben, und seine Assistenten setzen die Uhren der noch nicht anwesenden Spieler in Gang. Na also, es geht doch!

Mein Gegner, ein Libyer, erscheint einige Minuten nach 9 Uhr, begrüßt mich freundlich, führt seine ersten Züge aus und schenkt mir nach Zug 5 einen Kugelschreiber, obwohl mein Kuli, mit dem ich seit einigen Jahren all meine Partien mitschreibe, auf dem Partieformular liegt. Um nicht unhöflich zu wirken, stecke ich meinen Stift ein und setze die Notation mit dem geschenkten Schreibgerät fort.

Bei Zug 8 ertönt wieder Musik aus den in der Decke eingelassenen Lautsprechern. Heute erklingen klassische Töne. Eine hübsche Sache, aber doch bitte nicht während eines Schachturniers! Wieder dauert es ungefähr fünf Minuten, bis Ruhe herrscht. Ach – was heißt hier Ruhe…Die Musik wird ersetzt durch herumtobende Kinder, direkt vor dem Turnierraum. Sie werden assistiert von diskutierenden Erwachsenen. Der Steinbau sorgt dafür, dass alles laut hallt. Ich habe das zweifelhafte Glück, direkt an der offenen Saaltür sitzen zu müssen. Es ist wenig überraschend, dass ich mich unter solchen Bedingungen nicht konzentrieren kann.

Wenigstens kommt nach längerer Durststrecke endlich mal wieder ein original Rossolimo-Sizilianer aufs Brett. Mein Gegner verfügt zwar über eine ansehnliche ELO (1874), er scheint sich aber mit dem System überhaupt nicht auszukennen. Sein Königsspringer startet eine 4-zügige Rundreise übers Brett, die im 12. Zug wieder auf g8, also dem Ausgangsfeld, endet. Eingangs des Mittelspiels verfügt der Schwarze über zwei isolierte Doppelbauern auf der c- und e-Linie, massive Schwächen auf den Feldern f6 und d6 sowie einen eklatanten Entwicklungsrückstand. Nach dem 22. Zug stehen alle drei Figuren seines Königsflügels auf ihren Ausgangsfeldern! All diese schwachen Bauern sind zum ernten bereit. Ich muss nur kurz überlegen, welche Früchte ich zuerst pflücke.

Die Ernte in Form von drei Bauern fällt mir von alleine in den Schoß. Gleichzeitig gelingt es mir, die Stellung durch Abtausch stark zu vereinfachen. Das ist fast zu simpel. Nach weniger als zwei Stunden ist alles vorbei. Bei der Aufgabe bedankt er sich bei mir! Wofür? Dass ich ihm den Punkt abgenommen habe? Für seine 1874 spielt er verdammt schwach. Wo er diese Zahl nur her hat?

Er bittet mich, auf einen kurzen Schwatz vor die Tür zu gehen. Es ist der Präsident des libyschen Schachverbandes! Auf dem Kuli steht die Telefonnummer, unter der man ihn direkt erreichen kann. Vielleicht rufe ich ihn mal an, wenn ich Lust auf ein Open in Libyen habe! Was mich dort wohl erwarten würde? Die Konversation mit ihm ist schwer möglich, da er kaum englisch spricht. Wie kann so jemand Präsident einer Sportföderation sein?

Bei der Olympiade in Kanthy Mansisk fungierte er kürzlich als nicht spielender Kapitän des libyschen Teams. Er stellt mir einen weiteren Libyer vor. Es ist einer der Vizepräsidenten der FIDE! Am liebsten hätte ich ihn gleich gefragt, ob Libyen bei der FIDE-Präsidentschaftswahl vor sechs Wochen für Karpov oder Iljumschinow gestimmt hat. Aber da ist er schon wieder im Turniersaal verschwunden.

Stattdessen mache ich den Turnierorganisator ausfindig, um meinen Transfer in trockene Tücher zu bringen. Es ist das hagere Männchen mit blauer Baseballkappe, das gestern bei der offiziellen Eröffnung den meisten Applaus kassiert hat. Wahrscheinlich wurde er dafür beglückwünscht, dass die Verspätung im Gegensatz zu den Vorjahren nur vier Stunden und acht Minuten betrug!

Ich gebe ihm zu verstehen, dass ich wissen möchte, wer mich am Montag fahren wird. Laut seiner Aussage wird es entweder sein Sohn sein, (der mit dem Auto, das nach Benzin stinkt!) oder er selbst. Als Abfahrtszeit vereinbaren wir 5:30. (Bereits wenn ich es hinschreibe, fange ich an zu gähnen!). Treffpunkt ist an der Rezeption. Hoffentlich geht das alles gut. Ich habe meine Zweifel. Zurück im Zimmer aktualisiere ich das Tagebuch, gebe die Partie vom Morgen ein und analysiere beide bisher gespielte Partien. Das sind wahrlich keine Meisterwerke der Schachgeschichte! Nach dem Mittagessen ist erstmals Eröffnungstheorie angesagt. Caro-Kann steht auf dem Trainingsplan. Allerdings komme ich nicht weit. Der Mittagsschlaf übermannt mich.

Kurz vor 16:00 eile ich zur 3. Runde in den Turniersaal. Der erste Tunesier wartet auf mich. Es ist ein 12-jähriges Kind ohne ELO-Zahl und somit jene Sorte von Spielern, die man überhaupt nicht einschätzen kann. Ich habe Schwarz. Er knallt in Windeseile die ersten zwölf Züge der Französisch-Vorstoßvariante aufs Brett, inklusive doppeltem Bauernopfer. Es ist also einer dieser brandgefährlichen Theorie- und Gambitgeier, vor denen man höllisch aufpassen muss!

Zunächst verteidige ich meinen üppigen Mehrbesitz umsichtig. Dann jedoch leiste ich mir eine Panne wie schon lange nicht mehr. Auf simpelste Weise verliere ich einen Springer ohne jeglichen Ersatz, dabei habe ich das Motiv sogar gesehen! Mir läuft es heiß und kalt den Rücken herunter. Ich bin stocksauer auf mich selber, lasse mir aber nach außen nichts anmerken. Dieser Schockzustand dauert zwei bis drei Minuten an. Dann beginne ich, das Positive an meiner Stellung herauszufiltern. Immerhin habe ich zwei Bauern für die Figur sowie das Läuferpaar. Das Brett ist noch voller Figuren. Da kann ich schon noch Widerstand leisten und vielleicht sogar einen Angriff einleiten.

Mein König ist aber in der Mitte stecken geblieben, und die gegnerischen Figuren spielen ausnahmslos aktiv mit. So gut es geht, halte ich den Laden dicht und beschäftige ihn ab und zu mittels einiger Nadelstiche. Mehr als ein Gestochere im Nebel ist es aber nicht. Mir beginnt die Zeit davon zu laufen. Die Verteidigung machte ausgiebige Rechenvorgänge nötig. Ich habe noch 9 Minuten auf der Uhr, während der Knirps auf der anderen Seite noch über mehr als eine halbe Stunde verfügt.

Trotzdem sieht er nicht, wie er meine Stellung knacken kann. Stattdessen führt er durch Zugwiederholung bei nahezu vollem Brett die Punkteteilung herbei! Mittels eines Turmopfers hätte er nicht nur am Schluss meine Festung zertrümmern können. Er nimmt das Remis scheinbar gleichmütig hin, während ich mein Glück kaum fassen kann. Gut, ich habe nach dem Figurenverlust wacker gekämpft, aber verdient war dieser halbe Punkt sicher nicht.

Gerne würde ich mit ihm analysieren, aber die Turnierleitung ist sofort da, will die Partieformulare einkassieren und sorgt dafür, dass die Figuren sofort wieder in die Grundstellung gelangen. Obwohl im hinteren Teil des Saales bereits alle Partien beendet sind, ist auch dort eine Nachbetrachtung nicht möglich. Andererseits dürfen keine Bretter und Figuren mit nach draußen genommen werden. Auf diese Weise kommt nur wenig Open-Atmosphäre auf.

Später, als ich Rybka ran lasse, wird mir noch viel klarer, was für ein unglaubliches Dusel ich über fast die gesamte Partie hatte. An mehreren Stellen hätte er mich mit dem erwähnten Turmopfer niederstrecken können. Aber er machte oft nur den zweit- oder drittbesten Zug, so dass ich mich gerade noch behaupten konnte.

Es ist 19:55. Schnell zum Abendessen. Die Analyse war zu interessant! Die Augen sind mal wieder größer als der Magen, so dass danach ein weiterer kurzer Spaziergang auf meiner „Stammstrecke“ angesagt ist. Alle drei Partien müssen noch ins Partieheft eingetragen werden, eine Tradition, die ich trotz Computer eisern aufrecht erhalte. Heute Nachmittag habe ich meine 1572. Turnierpartie gespielt!

Worin ich allerdings überhaupt keine Erfahrung habe, ist die Bedenkzeitregelung, die hier herrscht. Pro Spieler stehen lediglich 90 Minuten plus 30 Sekunden ab dem ersten Zug zur Verfügung, das heißt, es gibt keine zusätzliche Zeit nach den 90 Minuten wie sonst üblich (15, 30 oder wie in Rijeka im März sogar 60 Minuten). Das macht die Partien fast zu einer einzigen Zeitnotphase. Man kann unmöglich einmal 20 oder gar 30 Minuten in eine Stellung investieren. Das einzige Positive daran ist, dass die Gegner genau so wenig Zeit haben!

Erstmals will ich der Auslosung für die morgige 4.Runde nach Beendigung des 3. Durchgangs beiwohnen. Es läuft noch eine Partie, wodurch es sich in die Länge zieht. Trotzdem warte ich ab, und werde eine gute halbe Stunde später belohnt. Ich werde heraufgelost und spiele gegen einen Tunesier mit 2 Punkten. Dafür habe ich erneut Weiß. Es ist der dritte Gegner ohne internationale ELO-Zahl. Das ist bedauerlich, denn die meisten spielen gutes Schach! Außerdem erscheint kein Spieler ohne ELO in meiner Datenbank, wodurch eine Vorbereitung unmöglich ist.

Ich schreibe noch etwas Tagebuch und beende den Tag sehr früh, nämlich schon gegen 23:00. Morgen wartet gleich die nächste Doppelrunde. 1,5 aus 3.

Donnerstag, 04.11.2010:
Noch vor dem Frühstück hacke ich weitere Zeilen ins Tagebuch. Die 4. Runde wird sogar ein paar Sekunden vor 09:00 eingeläutet! Das Turnier hat seinen Rhythmus gefunden. Das Chaos des ersten Tages ist einer gewissen Ausgeglichenheit gewichen. Wenn nur dieser hohe Geräuschpegel nicht wäre. Mir sitzt ein etwa 28-jähriger, gegelter Tunesier mit feurigen Augen gegenüber. Er begrüßt mich überaus freundlich, so wie das hier bislang alle tun.

Russisch kommt aufs Brett. Es entsteht gar keine Partie auf Augenhöhe, denn er zieht es vor, durch seinen 6. Zug einen Springer zu verlieren! Die altbekannte Fesselung in der e-Linie ist das Motiv. Wie ich am gestrigen Nachmittag lässt auch er sich nichts anmerken und spielt unverdrossen weiter. Ich verbrauche viel Bedenkzeit, um wirklich die besten Züge zu finden. Mitten in einem dieser Denkvorgänge klingelt das Handy des Turnierleiters und zwar fünf Mal! Dafür gibt es heute keine Untermalung aus den Deckenlautsprechern!

Schließlich zeigt mein Druckspiel im Zentrum und am Königsflügel doch Wirkung. Um nicht im Angriffswirbel unterzugehen, muss er viel Material tauschen, einschließlich der Damen. Wie von selbst bringen meine beiden Türme seinen König am Brettrand zur Strecke. Ich habe einen Punkt eingefahren, aber so ganz befriedigend ist es wegen seines frühen Figurenverlustes nicht. Egal, 2,5 Zähler sind im Sack!

Analyse, Mittagessen, kurzer Spaziergang, Tagebuch schreiben. Alles läuft ab wie immer in diesen Tagen. Heute gönne ich mir eine extra lange Siesta. Einfach mal eine Stunde lang ruhen und entspannen. Gegen 15:50 mache ich mich auf den Weg ans Brett. Auf mich wartet Ben Fredj Jawhar, ein Monster von einem Mann! Der Tunesier ist bestimmt zwei Meter groß und mindestens genau so breit, aber nicht minder freundlich bei der Begrüßung als all die anderen! Wieder kommt die Französisch-Vorstoßvariante aufs Brett, aber diesmal weiche ich früh ab. Mein Spezialzug kommt sehr überraschend für ihn, und prompt wählt er eine nicht so gute Fortsetzung. Ich komme glänzend aus der Eröffnung, habe extrem wenig Zeit verbraucht (12 Minuten für 15 Züge) und fühle mich körperlich topfit.

Im Gegensatz zu mir hat Ben Fredj keinen rechten Plan und steht im weiteren Verlauf immer schlechter. Schließlich kassiere ich seinen Isolani auf d4 ein, ganz im Stile Dr. Tarraschs! Später stellt sich heraus, dass ich phasenweise genauso spiele wie das Analysemonster Rybka! Ein zweiter Bauer fällt, ich habe Mattdrohungen, die Weiß lähmen, und gleichzeitig wandert mein d-Freibauer in Richtung gegnerische Grundreihe. Es ist lange her, dass ich derart stark aufgetrumpft habe. Heute ist mein Tag. Noch ein Zug, und dann habe ich – VERLOREN!

Wer diese Stellung und die ganze Partie sieht, kann es nicht glauben, dass Schwarz verlieren konnte. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel schlägt es im schwarzen Lager ein. Ein Damenopfer, das ich annehmen muss, gefolgt von einem Matt mit Springer und Turm, seinen restlichen beiden Figuren! Ich verfalle eine Minute in eine Schockstarre, kann mich nicht bewegen. Lächelnd meint er, dass ich besser als er gespielt habe. Ein schwacher Trost, wenn man die Ernte, wie so oft, nicht einfährt.

Völlig erledigt schleiche ich in Richtung Zimmer. Im dunklen Korridor vor der Türe krame ich den Schlüssel hervor und versuche ungelogen geschätzte 90 Sekunden, den Schlüssel ins Schloss zu bringen. Das ist für eine derartige „Tätigkeit“ eine lange Zeit. Es gelingt mir einfach nicht, die Tür zu öffnen. Wutentbrannt und mit lautem Fluch pfeffere ich das Sch…ding auf den Boden. Dadurch öffnet sich die Türe natürlich auch nicht. NIE WIEDER TUNESIEN!

Es hilft ja nichts. Ich hebe das Ding auf und versuche mein Glück aufs Neue. Und siehe da: Das Fluchen hat geholfen. Wie durch ein Wunder gleitet der Bart butterweich ins Schloss. Noch ein kurzer Dreh nach rechts, und schon macht es KLICK! Rein, Tür zu und aufs Bett werfen – Abstand gewinnen, an etwas anderes denken. Aber wie soll ich jetzt an etwas anderes denken. Das ist UNMÖGLICH!
Ich schnappe mir den Laptop und beschäftige mich eineinhalb Stunden lang mit der Analyse dieser Partie. Kurz vor 21:00 renne ich hinauf ins Restaurant, um noch etwas vom Buffet zu ergattern. Essen als Frustbewältigung.

Später sehe ich nach, gegen wen ich morgen antreten muss. Es ist ein weiterer Tunesier, bestimmt auch kein Schlechter. Leider hat auch er keine ELO-Zahl. Das liegt daran, dass in Tunesien kaum internationale Turniere stattfinden, und Reisen ins Ausland können sich die meisten nicht leisten.

Wer sich auf meine Kosten amüsieren will, bitteschön! Hier kommt die kritische Stellung: Weiß: Ben Fredj Jawhar (TUN), ohne ELO, Schwarz: S. W., ELO 1869: W: Kh1, Dg2, Tg1, Sd6, a2, b2, f3, h2. S: Kh8, Dh4, Ld4, a6, b7, d3, e6, h7, h6. Weiß hat soeben Sd6 gezogen und droht matt mittels Sf7. Mechanisch zog ich Tf8??, um nach Dg8+ nebst matt aus allen Wolken zu fallen. Mein Gegner hätte sich sogar den Luxus erlauben können, die andere Reihenfolge zu wählen: Sf7+! Txf7 und dann Dg8#. Df4 statt Tf8?? hätte übrigens den klaren Gewinn für Schwarz festgehalten.

Die 123 Teilnehmer kommen aus Tunesien, Algerien, Libyen, Frankreich, Russland, Holland, Deutschland, Finnland, Indien, Sri Lanka, und sogar ein Monegasse hat gemeldet! Zwei Großmeister sind am Start: Vjatcheslav Ikonnikov (2571), ein Vielspieler aus Russland sowie sein Landsmann Arkadi Eremeevich, dessen ELO mich zum Staunen bringt: Geradezu lächerliche 2287 bringt er auf die Waage. Fünf IMs, 6 FMs sowie eine WIM (Internationale Meisterin) gesellen sich als TitelträgerInnen dazu.

Die Geldpreise sind für ein Turnier dieser Größenordnung nicht übel. Die Staffelung lautet: 750,-, 500,-, 250,-, 125,-, 75,-, 38,- zuzüglich fünf Jugendpreise. Ohne Sponsoren geht das sicher nicht, zumal das Startgeld lediglich 20,- beträgt. (Alle Angaben sind in Euro). Übrigens habe ich bis jetzt immer noch nicht bezahlt…
Zum Abschluss des Tages lasse ich mich noch ein wenig von einer Alexej Shirov DVD berieseln. 2,5 aus 5.

Freitag, 05.11.2010:
Ich öffne die Augen. Es ist – 8:45! Um Gottes Willen! In einer Viertelstunde beginnt die Runde! Doch halt - heute findet nur eine Partie statt und zwar nachmittags um 15:00. So eine Aufregung gleich am frühen Morgen! Ich habe schlecht geträumt. Dämone aller Größen, Farben und Erscheinungsformen, wie sie bei Hieronymus Bosch in der Kunstgeschichte vorkommen, haben mir Angst eingejagt. Die wollten wohl auf meine bittere Niederlage von gestern noch eins draufsetzen!



Kaum verlasse ich mein Zimmer, schon läuft mir mein gestriger Gegner über den Weg! Er erzählt mir, dass er im Computer nachgesehen hat, wie man meine Art der Eröffnungsbehandlung am besten bekämpft. Wieder bedauert er, dass ich diese gut gespielte Partie verloren habe. Er ist in der Tat ein warmherziger Mensch!

Nach dem Frühstück ergänze ich kurz dieses Werk. Dann aber steht etwas Neues auf dem Tagesablaufplan, nämlich Schwimmen im Hallenbad! Jeden Tag laufe ich dicht daran vorbei, fand aber bislang hauptsächlich wegen der Doppelrunden keine Zeit, um es zu betreten. Für ein Hotel-Hallenbad hat es eine sehr beachtliche Größe. Ich packe Handtuch und Badesachen zusammen und laufe die paar Schritte hinüber. Als ich die Halle betrete, bekomme ich kaum Luft, so dampfig ist es. Bevor ich anfange zu schwitzen, stelle ich mich rasch unter die Dusche. Und dann ab ins warme Nass. Ich schätze, das Wasser hat 28°! Erfrischung kommt da kaum auf.

Nach geschätzten 25 Bahnen springe ich ein paar Meter weiter in ein rundes Becken mit Blubberwasser, neudeutsch Jacuzzi genannt. Für zehn Minuten ist das ganz witzig. Im Anschluss will ich zwei Saunarunden absolvieren, aber leider ist diese nicht eingeschaltet, und ein Bademeister ist in diesem Moment auch nicht da. Also verzichte ich notgedrungen darauf und beende die Aktion. Trotzdem hat es gut getan. Bis zum Mittagessen befasse ich mich mit der hochinteressanten Französisch-Variante, die ich gestern auf dem Brett hatte. Nach dem Essen spiele ich einige tolle Partien aus alten Schach-Magazinen nach, bevor es kurz vor 15:00 in den Spielsaal geht. Ich bin topfit und guten Mutes.

Leider muss ich einmal mehr direkt am zugigen Saaleingang spielen, deren Türen jeden Tag sperrangel weit offen steht. Ben Khedija Kais, mein heutiger Gegner, begrüßt mich natürlich auch, als er ans Brett kommt, aber er ist der Erste, der nicht ganz so überschwänglich daher kommt. Das muss ja auch nicht immer sein. Er spielt die klassische Scheveninger Variante, worauf ich mit langer Rochade und Angriff am Königsflügel antworte. Schnell stehe ich deutlich besser, aber entscheidend komme ich ihm noch nicht bei. Ich mache in hochkomplizierter Stellung Vieles richtig, aber als es um die Wurst geht, greife ich zweimal entscheidend daneben. Ich werde sehenswert ausgekontert und stehe schon wieder mit leeren Händen da! Durch den schön vorgetragenen Schlussangriff meines Gegners ist mein heutiger Leidensfaktor bei Weitem nicht so hoch wie nach dem gestrigen Missgeschick.

Es ist paradox: Die beiden letzten Partien waren sehr ansprechend geführt, brachten aber nichts Zählbares. In der Partie aus der 3. Runde, als ich so kläglich einen Springer verlor, erzielte ich einen halben Punkt. Auch heute kann ich mir keinen ernsthaften Vorwurf machen. Häufig mache ich wenige, aber partieentscheidende Fehler, während meine Gegner, die ja auch nicht fehlerfrei spielen, ihre Fehler in der Eröffnung oder im Mittelspiel begehen. Oft stehen sie dann schlecht, aber eben noch nicht auf Verlust. Ich muss sehen, im entscheidenden Partieabschnitt noch konzentrierter zu sein, denn auch heute war mein Gegner sicher nicht besser als ich.

Die Analyse der heutigen Partie ist die bislang umfangreichste. Vor und nach dem Abendessen werden insgesamt mehr als drei Stunden Varianten gewälzt und begutachtet. Es ist sagenhaft, was in dieser Partie alles drin war. Heute beende ich den Tag wieder etwas früher, denn morgen steht die letzte Doppelrunde auf dem Programm. Da sollten nach Möglichkeit wenigstens 1,5 Zähler her. Das Punktekonto ist mit 2,5 aus 6 deutlich zu schlecht bestückt.

Samstag, 06.11.2010:
Frisch und ausgeschlafen schwinge ich mich ans Frühstücksbuffet. Vor der Runde reicht es noch, eine Partie aus der Aprilausgabe (!) des Schach Magazins 64 nachzuspielen. An Brett 38 sitzt mir ein grimmig dreinschauender Libyer gegenüber. Mit dem will ich keinen Ärger haben! Er beginnt mit 1. d4. Es kommt eine todlangweilige und blutleere Variante aus dem slawischen Damengambit aufs Brett. Ich bin viel zu ungeduldig und will zu schnell Vorteil erlangen. Das Ergebnis ist, dass ich nach 15 Zügen einen Bauern weniger habe und wir uns bereits im Endspiel befinden.

Nicht weit weg von unserem Brett klingelt ein Handy. Der Sünder reicht seiner Gegnerin, einem etwa neunjährigen Mädchen, die Hand, steht auf und leistet sich dann noch die Unverschämtheit, das Gespräch anzunehmen und im Turniersaal laut zu telefonieren! Das Mädel ist todtraurig und muss von ihrem Trainer oder Vater getröstet werden. Ich muss es immer wieder erwähnen: Diese Nullungsregel im Zusammenhang mit Telefonieren im Turniersaal ist so unsinnig. Es hat mit Schach überhaupt nichts zu tun und macht nicht selten beide Parteien unglücklich!

Dabei gäbe es Alternativen, zum Beispiel Geldstrafen oder Kontrollen am Eingang. Kein Spieler dürfte einen Turniersaal mit einem Handy betreten. Die Geräte müssten bei der Turnierleitung abgegeben werden. Wem das zu aufwändig wäre, könnte das Elektronikteil von Haus aus daheim oder im Hotelzimmer lassen. Welche Form auch immer man wählt, alles ist besser als eine Nullung.

Natürlich hat mich dieses Störmanöver aus der Konzentration gebracht. Dass ich aber nach wenigen Zügen so schlecht stehe, hat nichts mit dem Vorfall zu tun. Relativ bald entsteht ein Doppelturmendspiel. Ich beiße mich richtig hinein und investiere viel Energie, weil ich um keinen Preis der Welt gegen diesen Kerl verlieren will! Äußerst unangenehm ist nämlich, dass er praktisch nach jedem Zug aufsteht, sich einige Schritte vom Brett entfernt und die Szenerie aus der Distanz betrachtet.

Dadurch spielt er oberflächlich, weil er sich niemals tief in die Partie hineindenken kann. Über weite Strecken der Partie reicht diese Oberflächlichkeit jedoch aus, um mich im Griff zu haben. Das ist ein schlechtes Zeichen und sagt viel über meine Tagesform aus. Die Zeit läuft mir davon. Ich habe noch fünf Minuten Restbedenkzeit zuzüglich 30 Sekunden pro Zug. Im 47. Zug macht er endlich einen Fehler, und ich stelle Materialgleichheit her.

Dennoch bin ich weiterhin in Verlustgefahr, denn sein König steht viel aktiver als meiner. Außerdem verfügt er über einen gefährlichen Freibauern im Zentrum. Ich spiele dieses komplexe Turmendspiel rund zwanzig Züge lang mit einer Bedenkzeit zwischen drei und fünf Minuten. Ich verteidige mich zäh, unter anderem durch die Anwendung taktischer Tricks. Als ich im 60. Zug tatsächlich das Remis erzwingen könnte, greife ich daneben und verliere tatsächlich noch! Lange schon habe ich ein Talent entwickelt, viele Partien auf besonders frustrierende Weise zu verschenken, so auch diese. Die Partieformulare werden unterschrieben, er verabschiedet sich, und ich trotte stumm ins Zimmer. 2,5 aus 7. Das ist der vorläufige Tiefpunkt in diesem Turnier.

Nach dem Essen zwinge ich mich dazu, die Partie ausführlich zu analysieren, insbesondere das Turmendspiel. Der Rechenknecht bestätigt größtenteils mein Gefühl. Ich habe das Endspiel geschickt verteidigt und gut behandelt, bis auf einen einzigen Moment. Der ist dann aber wieder mal spielentscheidend. Zum Abschalten lege ich mich eine Dreiviertelstunde hin.

Um 15:57 fängt mich Latiri Tahar, der Organisator mit der blauen Baseballkappe, vor dem Spielsaal ab und fragt mich nach dem Geld. Dabei reibt er sich vielsagend die Hände! Er findet das witzig, aber ich finde es ziemlich unpassend. Was soll das? Noch dazu ist der Zeitpunkt äußerst ungünstig, ganz kurz vor Rundebeginn. Ich vertröste ihn auf später, wenn die Partie beendet ist, was er akzeptiert.

Das Gute an Doppelrunden ist, dass man einen schmerzlichen Verlust, den man vormittags erlitten hat, durch einen Sieg am Nachmittag schnell vergessen machen kann. Zumindest lässt es sich dann besser leben. Aber der Tunesier Ilyes Khamassi will erst einmal besiegt sein. Ich habe Weiß. Erstmals seit meiner Jugend (!) kommt das Zweispringerspiel aufs Brett.

Weil’s egal ist, probiere ich den Max Lange Angriff aus, obwohl ich kaum Theoriekenntnisse habe. Und siehe da, er hat noch weniger Ahnung als ich und stolpert orientierungslos durch die Eröffnung. Mit einem hübschen Springeropfer auf f7 leite ich schon im 14. Zug die Gewinnkombination ein. Die Zinsen, die ich in den darauffolgenden drei Zügen einsammle, bestehen aus einem Turm, einem Springer und einem Läufer, also von jedem etwas! Das überzeugt dann auch den jungen Tunesier, und er streckt die wenigen Waffen, die er noch hat.

Es ist noch nicht einmal 18:00, so dass das hagere Blaukäppchen früher zu seinem Geld kommt als gedacht. Ich rechne ihm vor: 45,- x 7 Übernachtungen = 315,- zuzüglich 20,- Startgeld = 335 Euro. 350,- in 50,-er Scheinen lege ich vor ihn auf den Tisch, an dem wir Platz genommen haben. „What about the transfer?“ Ich bin stocksauer, lasse mir aber nichts anmerken. Er selbst hat mir zweimal per E-Mail bestätigt, dass der Transfer kostenfrei arrangiert wird.
„You wrote me twice that the transfers are for free.” Mit keinem weiteren Wort geht er darauf ein. Vielmehr zückt er stumm aus einem kleinen Umhängebeutel ein umso dickeres Bündel mit Eurogeldscheinen aller Farben und reicht mir 15,- Rückgeld herüber.

So etwas kann ich gar nicht leiden. Warum wird immer wieder versucht, andere auf so billige Weise zu übervorteilen? Was verspricht er sich konkret davon? Glaubt er, dass ich nach so einem Vorfall wiederkomme? Es bleibt ein bitterer Nachgeschmack.
Ich frage ihn nach einer Quittung. Das scheint ein Fremdwort für ihn zu sein. Er hat keinen Fetzen Papier dabei. Also lasse ich’s.

Er fragt mich nach meiner Abflugszeit am Montag. Erstens habe ich ihm die bei meiner Anmeldung zugemailt, und zweitens habe ich mit ihm persönlich vor wenigen Tagen die Modalitäten der Rückfahrt besprochen! Er hat die Sache ganz offensichtlich nicht im Griff. Immerhin kann ich ihm die Zusage abringen, dass sein Sohn morgen früh anwesend sein wird. Ich schwöre ihn nochmals darauf ein, dass als Abfahrtszeit 5:30 vereinbart ist, da der Flieger um 8:45 in Tunis abhebt. Treffpunkt ist an der Hotelrezeption. Ob er sich das bis übermorgen merken kann?

Er fragt, wie es mir gefallen hat. Ich kann mir nicht verkneifen, die unmöglichen Zustände am ersten Tag anzusprechen. Er meint, er habe lediglich mit 80 Teilnehmern gerechnet. Tatsächlich erschienen dann 123 Spieler. Folglich fehlten ungefähr 25 Figurensätze samt Brettern sowie Uhren. Er fuhr dann zum Bazar von Sousse, um dort nach viel Sucherei bei den Händlern die Schachspiele zu erwerben! Dass so etwas nicht ohne zeitraubendes Handeln abgeht, ist bekannt. Wo er die fehlenden Uhren aufgetrieben hat, bleibt sein Geheimnis. Man stelle sich vor, ein internationales Turnier in Deutschland oder sonst irgendwo in Europa würde auf diese Weise vorbereitet werden…

Nach 22:00 springe ich noch mal hinüber zum Turniersaal, um mir die Auslosung anzusehen. Ich wurde zum zweiten Mal hochgelost und muss gegen einen Vierpunkter spielen. Dafür habe ich Weiß. Mein morgiger Gegner aus Algerien hört auf den stolzen Namen Ouahab M. Kamel! Durch die fehlenden ELO-Zahlen sind die Jungs kaum einzuschätzen. Alle bewegen sich in der Preisklasse zwischen 1700 und 2100. Das macht die Aufgabe nicht leichter. Ich will unbedingt noch 50% schaffen, was einen Sieg voraussetzt. Bis zur Bettruhe schmökere ich noch ein wenig im letzten „New in Chess“ Heft. 3,5 aus 8.

Sonntag, 07.11.2010:
Putzmunter hüpfe ich um kurz vor halb acht aus den Federn. Vor dem Frühstück reicht es noch, eine Partie zwischen Peter Leko (Ungarn) und Le Quang Liem (19), dem vietnamesischen Aufsteiger 2010, nachzuspielen. Pünktlich um 9:00 sitze ich Ouahab Kamel gegenüber, einem sympathischen Jüngling von schmaler Statur.

Die Philidor Verteidigung kommt aufs Brett. Darin habe ich kaum Erfahrung, aber ich weiß, dass man sich daran ganz leicht die Zähne ausbeißen kann. Zunächst fasse ich den falschen Plan. Ich will lang rochieren und dann am Königsflügel angreifen. Es gelingt mir aber rechtzeitig, doch auf die kurze Rochade umzuschwenken, da ich merke, dass meine ursprüngliche Idee Unfug ist. Auch am letzten Tag kommt der Präsident des libyschen Schachverbandes, mein Gegner aus der zweiten Runde, an meinem Brett vorbei und schießt mehrere Fotos von mir. Bestimmt wird er auf dem Bazar in Tripolis eine Porträtserie von mir feilbieten! Viele Zeitgenossen aus dem Nahen Osten haben schon merkwürdige Verhaltensweisen.

Ich gebe das Läuferpaar und fühle mich unwohl. Schwarz schnappt sich mittels …Dxb2 einen Bauern und stellt damit seine „Tante“ ins Abseits. Mittlerweile bin ich sowohl im Zentrum als auch am Königsflügel gefährlich aufmarschiert. Mein Angriff kommt richtig in Schwung. Ich habe die Initiative und setze ihn immer stärker unter Druck. Mit Dame, zwei Türmen, Springer und Läufer, assistiert von einem Bauern, gehe ich auf seinen geschwächten König los. Diesmal lasse ich ihn nicht entwischen. Ich überprüfe meine Berechnungen vor der Ausführung doppelt. Das kostet viel Zeit, bringt aber Sicherheit. Nach meinem 31. Zug wirft er das Handtuch. Das Matt ist nicht mehr zu vermeiden. Erleichtert nehme ich seine Gratulation entgegen.

Für diese Momente lohnt es sich, auf Turniere zu fahren. Leider kommen diese Glücksgefühle viel zu selten vor. Trotzdem – wenn ich mich richtig anstrenge, kommt auch irgendwann ein Erfolgserlebnis. Damit dies künftig öfters vorkommt, muss ich eben mehr tun. Mit meinen beiden Siegen in den Schlussrunden habe ich dieses Turnier gerade noch gerettet. 50% sind akzeptabel.

Ich biete Ouahab an, die Partie mit meinen Figuren draußen zu analysieren. Er sagt zu, und sofort gesellen sich weitere Algerier hinzu. Am Tisch wird englisch gesprochen. Es herrscht eine nette Atmosphäre, die ich sehr genieße. Das hätte ich gerne öfter gehabt. Ungefähr eine Dreiviertelstunde beschäftigen wir uns ausgiebig mit den verschiedenen Stellungsbildern.

Danach steht das letzte Mittagessen auf dem Programm. Ich gönne mir zum Nachtisch eine himmlische Karamelcreme, die mich dahin schmelzen lässt. Dafür gehe ich gerne zehnmal hintereinander auf die Knie! Ein Gedicht! Und mit dem Punkt im Gepäck schmeckt es noch ein Stück köstlicher!

Die Siegerehrung ist für 15:00 angesetzt. Hm, schau mer mal… Ich gebe die Gewinnpartie in den Laptop ein und studiere die Varianten, die das Programm vorschlägt. Manchmal gefallen mir Zugvorschläge und ursprüngliche Einschätzungen gar nicht. Ich muss ihm einfach mehr Zeit geben. Dann rechnet er tiefer und gibt verbindlichere Urteile ab.

Während ich mich also meiner schönen Partie widme, klopft es plötzlich an der Tür. Nanu, wer ist denn das? Ein Mitglied der Putzfrauenarmada, die neue Handtücher bringt, kann es eigentlich nicht sein. Ich öffne die Tür. Vor mir steht eine gutaussehende und bestens gekleidete Dame, die sich wundert, dass ich noch nicht ausgecheckt habe. Offenbar ist sie die Verantwortliche rund um die Zimmer. Ich erkläre ihr, dass ich am ersten Abend bereits an der Rezeption Bescheid gegeben habe, dass das Abreisedatum auf der überreichten Karte für das Restaurant falsch eingetragen war und von dem Dienst habenden Herrn handschriftlich ausgebessert wurde. Ich fragte sogar noch einmal nach, ob das damit registriert und in Ordnung sei, was mit einem klaren „ja“ beantwortet wurde.

Daraufhin telefoniert sie von meinem Telefon aus mit der Rezeption. Sie benötigt dafür zwei Anläufe, weil der erste Gesprächspartner etwas begriffsstutzig ist. Um diesen simplen Sachverhalt zu klären, braucht sie fast zehn Minuten! Es ist ein Drama mit diesen Leuten.

Kurz vor 15:00 gehe ich zum Spielsaal. Davor wartet die Heerschar der Spieler. Durch die Scheibe sehe ich, wie fünf wichtige Menschen an einem Tisch sitzen und diskutieren. Sie werden doch nicht darüber beraten, wie lange sie die Teilnehmer diesmal warten lassen wollen?! Gegen 15:30, als sich meine Laune wieder zu verfinstern droht, erfahre ich von dem überaus netten Gegner, der mir die schmerzhafte Niederlage beigebracht hat, dass auf einen Politiker gewartet wird!

Aha, von daher weht der Wind. Diesmal ist der Organisation also kein Vorwurf zu machen. Das Ergebnis ist jedoch das Gleiche: Man wartet. Der Tunesier fragt nach meiner E-Mailadresse, weil er der Direktor eines geplanten Turniers in Monastir im März 2011 ist. Natürlich schreibe ich sie ihm auf, aber muss es nach diesen Erlebnissen hier in wenigen Monaten schon wieder Tunesien sein? Ich denke nicht!

Ich gehe zurück ins Zimmer und setze meine Analyse fort. Gegen 15:50 riskiere ich einen zweien Versuch und siehe da: die versammelte Gemeinschaft sitzt im Saal und lauscht den Worten des „Blaukäppchens“. Schnell realisiere ich, dass die eigentliche Siegerehrung noch gar nicht begonnen hat. Vielmehr werden die Honoratioren sowie das Schiedsrichterteam geehrt. Ich bin also genau zum richtigen Zeitpunkt erschienen.

In Tunesien wird in Sachen Schachtraining viel für Kinder und Jugendliche getan. Das spiegelt sich in den Ergebnissen des Opens wider. Drei Spieler der U 10 sowie einer der U 12 erreichten vier Punkte, in der Kategorie U 14 schaffte einer sogar fünf Zähler, während ein Jugendlicher unter 16 5 ½ Punkte einheimsen konnte. Die Kleinen holen sich stolz ihre Medaillen ab. Einer ziert sich, den Fettsack zu küssen, der ihm die Medaille umhängen will! Aber da muss er durch. Ohne Kuss keine Medaille!

Turniersieger wird am Ende doch der Spieler mit der höchsten ELO Zahl, nämlich der Russe Vjacheslav Ikonnikov. Als Einziger erzielt er 7,5 Punkte aus 9 Partien. Dahinter folgt eine Reihe von sechs Akteuren mit 7 Punkten. Der beste Spieler ohne ELO Zahl, ein Tunesier, erreicht beachtliche 6 Punkte. Eine Klasseleistung! Meine Wenigkeit belegt am Ende Rang 64. Meinen ELO Verlust kann ich mit -2 zum Glück in engen Grenzen halten.

Gegen 16:20 ist die Veranstaltung beendet. Ich verabschiede mich persönlich vom eloquenten Oberschiedsrichter, der stets mit Anzug und Krawatte auftrat und der rein optisch und von seinem Habitus relativ wenig mit den meisten seiner Landsleute gemein hat. „Häuptling Blaukäppchen“ ist noch in Gespräche verwickelt. Aber vielleicht sehe ich ihn doch morgen früh um 5:30.

Ich will die Zeit nutzen und noch ein paar Runden im Hallenbad drehen. Um 18:00 gehen dort nämlich die Lichter aus. Zwanzig Bahnen schwimme ich rauf und runter. Danach möchte ich wieder das runde Blubberwasserbecken genießen. So schnell ich meine Beine im Wasser versenkt habe, so schnell ziehe ich sie wieder heraus. Das sprudelnde Nass ist viel zu heiß!

Trotzdem sitzt ein älterer Engländer drin, der das auszuhalten scheint. Haben die Inselaffen eine höhere Körpertemperatur? Ich zitiere den Aufseher herbei. Er meint „Something is broken.“ Ja, den Eindruck habe ich auch! Auf die Idee, das Wasser abzulassen, oder diesen Bereich zu sperren, kommt er nicht. Er fügt hinzu, dass das Becken morgen repariert wird. Ich gebe zurück, dass mir das nichts nützt, weil ich dann wieder zu Hause in Deutschland sein werde. Während ich mich abtrockne, kommt der Engländer an mir vorbei. Seine Haut ist rot wie nach einem Sonnenbrand! Wer’s braucht… Inklusive An- und Ausziehen ist die Schwimmaktion in rund vierzig Minuten erledigt. Noch vor dem Abendessen beende ich die Partieanalyse.

Ab 20:10 vervollständige ich das Tagebuch. Dann ist letztmals Max Lange Theorie angesagt. Und das überaus lästige Kofferpacken droht auch noch. Ich stelle den Wecker auf 5:15 und beende den Tag um 22:10.

Montag, 08.11.2010:
Das Teufelsgerät klingelt mich zur eingestellten Zeit aus den Federn. Ich komme überraschend gut raus. Immerhin habe ich sieben Stunden geruht. Jeder Handgriff sitzt. Ich klatsche mir schnell einen nassen Waschlappen ins Gesicht, ziehe mich an und verstaue das Waschzeug und den Schlafanzug im Koffer. Der Laptop wird auf den Koffer geschnallt, die Kamera kommt über die rechte Schulter, und los geht’s.
Ich habe übrigens kein einziges Foto geschossen. Es gab einfach keine Motive! Turniersäle habe ich schon so viele fotografiert, und so besonders war derjenige in Sousse wahrlich nicht.

An der Rezeption schiebt der Nachtportier seinen Dienst. Wenig überraschend ist es um diese Zeit ruhig. Ich gebe den Schlüssel ab und vergewissere mich, dass die Hotelrechnung für mein Zimmer beglichen ist. Das ist zum Glück der Fall. Bei den dortigen Zuständen kann man sich da nie sicher sein. Es ist inzwischen 5:34. Außer dem Assistenten des Nachtportiers und mir sind keine weiteren Personen in der riesigen Lobby.

Langsam werde ich nervös. Sehr viel Zeit zum Vertrödeln habe ich nicht. Mein Flieger hebt um 8:45 in Tunis ab, und immerhin habe ich 130 Kilometer vor mir. Ich rechne grob mit einer Fahrzeit von eineinhalb Stunden. Wie ein Tiger im Käfig laufe ich auf und ab, unruhig und mit kaltem Schweiß auf der Stirn. Selten habe ich um diese Tageszeit derartigen negativen Stress. Ich überlege mir alle möglichen Szenarien: Hat die Benzinpumpe seines Autos tatsächlich den Geist aufgegeben? Hat er mich einfach vergessen? Hat er verschlafen? Kommt er in zehn Minuten, oder einer Viertelstunde, oder…?

Um genau 5:50 gehe ich zum Nachtportier und frage ihn, ob er mir ein Taxi nach Tunis bestellen kann und wie viel das kostet. „Oh, das ist eine schwierige Angelegenheit.“ „Schwierig? Warum schwierig? Wo ist das Problem, ein Taxi zum Hotel zu bestellen?“ „Erstens ist es teuer, und zweitens fahren alle Taxifahrer von hier nur in Sousse. Sie fahren nicht in andere Städte!“ Ich verstehe die Welt nicht mehr! Da könnte einer von denen das Geschäft des Monats machen, aber „aus Prinzip“ fahren sie nur in ihrer Heimatstadt!?

„Bitte organisieren Sie mir einen Wagen. Das muss doch möglich sein! Und wie viel kostet denn die Fahrt ungefähr?“ „Das kostet viel Geld.“ „Herrje! Wie viel denn? Nennen Sie doch mal einen Betrag! Kostet das 30 Euro, 50 Euro oder gar 100 Euro?“ „Nein, nicht 100 Euro.“ „Wie viel denn?“ Es kostet ungefähr 70 bis 80 Euro.“ „Gut, das ist doch mal eine Aussage. Also rufen Sie jetzt bitte irgendjemanden an.“

„Ein Taxi wird nicht fahren. Ich kann versuchen, andere Leute anzurufen.“ „Wer sind
andere Leute?“ „Privatpersonen. Aber ich weiß nicht, ob jemand fahren wird.“ „Wenn Sie niemanden anrufen, werden Sie niemals erfahren, ob jemand fahren wird!. Also rufen Sie bitte mal den ersten Kandidaten an!“ Er greift zum Hörer und führt tatsächlich ein erstes Telefonat. Mit wem er dabei spricht, weiß ich natürlich nicht.
Gerade legt er den Hörer auf, da entdecke ich meinen Fahrer! Die Erleichterung steht mir ins Gesicht geschrieben!

Geschniegelt und gestriegelt mit Anzug und Krawatte steht der Sohn von „Blaukäppchen“ vor mir und strahlt mich an wie ein Honigkuchenpferd! „Ich bin zu spät wie immer, es tut mir Leid!“, gibt er von sich. Wie soll ich ihm bei diesem Lächeln böse sein? Er ist der netteste Mensch, den man sich vorstellen kann. Und wenn ich jetzt auch noch Kritik äußere, ist er bestimmt auf mich sauer. Immerhin hat er sich für mich aus dem Bett gequält und fährt mich zum Nulltarif nach Tunis. „Ich bin froh, dass Sie hier sind. Let’s go!“ Rasch verabschiede ich mich vom Nachtportier und vergewissere mich, dass noch kein Fahrer bestellt wurde.

Um kurz vor 6:00 eilen wir nach draußen und besteigen seinen immer noch nach Benzin stinkenden Citroen. Auf der Fahrt unterhalten wir uns angeregt. Meine Nerven arbeiten wieder einigermaßen auf der Normalstufe. Als wir uns Tunis nähern, nimmt der Verkehr drastisch zu. Es ist Montagmorgen. Außerdem gibt es einige Hindernisse in Form von Baustellen. Es geht zäh voran, worauf der Uhrzeiger keine Rücksicht nimmt. Inzwischen ist es 7:25, und ich habe noch keinen einzigen Wegweiser zum Flughafen gesehen. „Wie lange brauchen wir noch?“ „Ungefähr zehn Minuten“, gibt er zurück. Ob ich ihm das glauben soll? Die Nervosität steigt wieder. Es wird 7:30, 7:35…Da! Ein Schild „Airport“! Ein Hoffnungsschimmer! Es dauert weitere zehn Minuten, ehe wir das Flughafengelände erreichen. Er muss eine Karte für den Parkplatz ziehen und dann einparken.

Schnell räume ich mein Gepäck aus dem Kofferraum und will mich schon von ihm verabschieden. Da meint er: „Ich komme mit und zeige Ihnen den Weg zum richtigen Eincheckschalter.“ Da bin ich richtig froh, denn Zeit zum Herumfragen habe ich jetzt wirklich keine mehr. Natürlich hat er ein schlechtes Gewissen. Wir stürzen zwei große Treppen hinauf, so gut das mit meinem Gepäck eben geht. Es ist unglaublich, dass es auf einem internationalen Flughafen wie Tunis keine Rolltreppe oder keinen Aufzug gibt. Den richtigen Schalter erreichen wir genau um 7:54! Auf dem Bildschirm an der Wand steht: „Letzte Eincheckmöglichkeit 8:05.“ Das war knapp!

Wir verabschieden uns voneinander, und ich erhalte die Bordkarte ausgehändigt. Einstieg ist bei Gate 59. Aber zunächst muss ich die übliche Sicherheits- und Kontrollorgie über mich ergehen lassen. Glücklicherweise verläuft diese Prozedur reibungslos. Wie sich herausstellt ist es genau dasjenige Gate, zu dem man am längsten braucht! Wenige Meter, bevor ich Gate 59 erreiche, höre ich schon den Einstiegsaufruf für meine Maschine. Ich muss mich gar nicht mehr hinsetzen, sondern kann gleich mit meiner Bordkarte, die ich in der Hand halte, als einer der ersten Passagiere einsteigen. In Reihe 1 lasse ich mich auf den mittleren Sitz fallen und atme kräftig durch!

Der Flieger hebt pünktlich ab. Das Frühstück schmeckt so gut wie selten. Schließlich habe ich diese frühmorgendliche Nerventortur nüchtern absolviert! Ich komme mit einem sehr netten Landschafts- und Reisefotografen ins Gespräch, der Anfang der neunziger Jahre einer der besten 200 Meter Läufer Deutschlands war. Wir erzählen uns gegenseitig Schwänke aus unserem Leben, wodurch die Flugzeit im Nu vergeht.

Kurz nach 11:00 habe ich wieder Münchener Boden unter den Füßen. Ich bin so froh, wieder daheim zu sein und verabschiede mich von dem glatzköpfigen Fotografen. An der Donnersbergerbrücke verlasse ich die S-Bahn, um in den 133er Bus umzusteigen, der fast vor meiner Haustüre hält. An der Haltestelle steht auf der elektronischen Anzeige geschrieben: „133 Forstenrieder Allee 7 Minuten“. Und das Schönste an dieser Information ist, der Bus wird todsicher in sieben Minuten eintreffen! Deutschland hat schon einige Vorzüge, die wir im Alltag viel zu selten würdigen!

Kurz vor 13:00 betrete ich meine Wohnung. Ein zweifelhaftes Schachabenteuer findet sein glückliches Ende.


(Stefan Winkler)