11. Europameisterschaft vom 05.-19.03.2010 in Rijeka –
Ein Tagebuch
Ein Traum wird wahr – meine erste Europameisterschaft! Das geht natürlich nur, weil das Turnier offen ausgeschrieben ist. Sonst könnten solche Patzer wie ich dort gar nicht mitspielen. Es geht in ein Land, das in seinem Staatswappen als wesentlichen Teil ein Schachbrett zeigt! Obwohl ich in den bevorstehenden 11 Runden heftige Prügel beziehen werde, freue ich mich auf das Ereignis. Bei den Herren sind 425 Spieler vorangemeldet, 188 davon Großmeister!
Freitag, 05.03.10:
Um 12:36 Fahrt zum Flughafen mit Bus und S-Bahn.
Abflug ist um 15:20 mit Lufthansa, Terminal 2. Beim Einstieg in den Bus, der
die Passagiere übers Rollfeld zum „Fluggerät“ bringt, erkenne ich eine
spanische WGM wieder, die sich angeregt mit GM Josep-Manuel Lopez-Martinez
(ESP, 2548) unterhält. Und da steht GM Yannick Pelletier (CH, 2616) und gleich
daneben GM Georg Meier (D, 2663) nebst Jan Gustafsson (D, 2646), dem Co-Sieger
von Gibraltar im Januar/Februar 2010 sowie Francisco Vallejo-Pons (ESP, 2706).
Die beiden Letztgenannten kommen direkt vom Bundesliga-Spitzenmatch Werder
Bremen-Baden-Baden, das kürzlich in Heidelberg-Handschuhsheim
stattfand. Bremen gewann überraschend mit 5:3. Bestimmt sind noch mehr Titelträger
anwesend, die ich nur nicht erkenne. Ein großmeisterlicher Flug steht bevor!
Der Flug ist fast pünktlich. Nach 45 Minuten setzen wir wohlbehalten auf der Zagreber Landebahn auf. Beim Einstieg in den Bus, der mich zum Flughafengebäude bringt, stehe ich neben dem zierlichen Fabiano Caruana. Mit diesem Weltklassemann darf ich also Bus fahren. Welche Ehre!
Wir sollen alle mit Bussen abgeholt werden. Es ist auch ein Bus da, in dem ca. 15 Teilnehmer sitzen, die bereits seit drei Stunden warten! Auch wir Neuankömmlinge warten ab 16:55 und zwar auf eine weitere Maschine, die kurz vor 18:00 eintreffen soll. Es ist todlangweilig. Gustafsson fragt Pelletier nach den Bedingungen für Biel. Dieser rattert sofort die Preisgelder herunter: „7000,- SFR, 5000,- SFR…“ Gustafsson überschlägt die Summen in Euro. „Aber warten Sie nicht zu lange“, fügt Pelletier noch hinzu. Gespräche unter Schachprofis… Erstaunlicherweise siezt er den Deutschen.
Dieser will 2010 „richtig“ Schach spielen,
will in der Weltrangliste nach oben klettern und sucht nach geeigneten
Turnieren, was auf dieser Ebene gar nicht so einfach ist. In den Jahren zuvor
hatte er keine rechte Lust, ernsthaft an seinem Schach zu arbeiten, aber mit 30
will er es noch mal wissen. In einem kürzlich erschienenen, lesenswerten
Spiegel-Online Beitrag wird seine Lebenssituation aufschlussreich geschildert. www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/0,1518,680073,00.html
Man darf gespannt sein, wie weit er es mit seiner veränderten Lebenseinstellung
bringen wird und ob er seine aktuelle ELO von 2646 entscheidend verbessern
kann. 2700 sind ihm durchaus zuzutrauen.
Um 17:50 setzt sich der Bus in Bewegung, ohne
dass ein einziger weiterer Fahrgast eingestiegen ist! 165 Kilometer sind es bis
Opatija. Dort sind alle Spieler in verschiedenen
Hotels untergebracht. Es hat geschätzte 3-5° Außentemperatur, also nur ein paar
Grad „wärmer“ als in München. Links und rechts der Autobahn liegen wahre
Schneemassen, aber die Straße selbst ist trocken. Gute zweieinhalb Stunden
später rollt der Bus in Opatija ein und hält irgendwo
im Zentrum das erste Mal an. Keiner weiß, an welchem Hotel wir sind. Es wird
nichts angesagt. Konfusion kommt auf. Ich bekomme schließlich mit, dass es
nicht das „Adriatic“ ist, das Hotel, in dem ich
wohnen werde. Nach zehn Minuten geht’s weiter. Kurz darauf lese ich in
Leuchtschrift „Grand Hotel Adriatic****. Der Bus hält
an, und ich bin wieder verunsichert. Ich habe nämlich im Hotel „Adriatic***“ gebucht, ohne „Grand“ und mit nur 3 Sternen.
Ich steige aus und spreche den Busfahrer an. Der versteht nur kroatisch.
Außerdem klingelt in diesem Moment sein Handy!
Fast alle steigen aus, holen das Gepäck aus dem Bauch des Busses und streben
Richtung Eingang des Grand Hotels Adriatic. Also
schließe ich mich ebenfalls an und hoffe, dass dies die richtige Entscheidung
ist. Kurz darauf erfahre ich, dass in dem riesigen Gebäudekomplex gleich zwei
Hotels beheimatet sind, das „Grand Hotel Adriatic“
und das Adriatic.
Wir werden an einem Anmeldetisch empfangen. Jeder erhält eine Tüte mit zwei
aufwendig gedruckten Heften, nein Büchern muss man sagen! Das eine gibt
erschöpfend Auskunft über sämtliche touristischen Möglichkeiten, die es in Opatija und Umgebung gibt. Buch Nummer zwei informiert
ausführlich über das Schach in Rijeka in Vergangenheit und Gegenwart. Dazu gibt
es die übliche Akkreditierungskarte samt Umhängeband.
Inzwischen ist es 20:50. Beim einchecken erfahre ich, dass es nur bis 21:00
Abendessen gibt. Also schnell in den Speisesaal und erst dann ins Zimmer.
Leider fährt der Aufzug erst ab dem ersten Stock und nicht von der Ebene der
Rezeption. Mit meinem 21 kg schweren Schachbuchkoffer (einige T-Shirts sind
auch noch drin!) samt Laptop und Fotokamera muss ich immerhin 19 Stufen
überwinden, um zum Aufzug zu gelangen.
Das Zimmer ist absolut in Ordnung. Es ist alles da, was ein Schachspieler
braucht! Ein Tisch für den Laptop und mein Schachbrett, ein Schrank für die
Schachbücher und die DVDs, genug Licht, um die Partien zu betrachten, und was
das Wichtigste ist: Ein Adapter zum Anschluss des Laptops ist nicht notwendig.
Die Steckergröße ist dieselbe wie bei uns. Die
Kroaten haben offenbar großzügige Sponsoren gefunden, denn der übliche
Zimmerpreis für eine Übernachtung mit Frühstück in meiner Zimmerkategorie
kostet 75,- Euro. Ich hingegen zahle für Vollpension gerade mal 42,-. Kein
schlechter Deal.
Durch die verspätete Ankunft haben wir fast alle die offizielle Eröffnungsfeier
in Rijeka verpasst. Das ist schade, aber nicht zu ändern.
Schnell den Schrank zum Schachbuchregal umfunktioniert und dann ab an den
Laptop, um meine letzte Mannschaftskampfpartie aus dem Match gegen Ammersee
einzugeben und analysieren zu lassen. Schließlich kommt morgen neues Material
hinzu. Kurz nach 23:00 sinke ich erledigt in die warmen Federn.
Samstag, 06.03.10:
Ich habe herrlich geschlafen und wache gut vorbereitet für die erste Niederlage
auf! Erstmals genieße ich bei strahlendem Sonnenschein den phantastischen Meerblick
von meinem Balkon aus dem 6. Stock! Nach einem köstlichen und ausgiebigen
Frühstück eile ich zurück an den Laptop und schreibe die ersten Zeilen dieses
Tagebuchs. Gegen 10:30 geht’s wieder hinunter, um nach der Auslosung zu sehen.
HURRA – ein Großmeister winkt! Adam Horvath, ein 26-jähriger Ungar mit einer
ELO von 2501. Damit ist er nur die Nummer 181 der Setzliste! Nicht zu fassen,
wie stark dieses Teilnehmerfeld ist. Letztlich werden 408 Teilnehmer an den
Start gehen. Ich bin an 385 gesetzt… In Gibraltar habe ich satte 39 Zähler
verloren und werde hier nur noch mit einer ELO von 1877 geführt. Grund genug
also, mich ins Zeug zu legen, um wenigstens einen Teil des Verlustes wieder
wettzumachen.
Ich habe Weiß und stelle schnell fest, dass er Paulsen spielt. Ein paar Mal ist
er damit ganz böse eingegangen, wie ich beim Nachspielen von geschätzten 25
Partien feststelle. Aber für mich wird’s schon reichen. Dennoch will ich meine
Haut so teuer wie möglich verkaufen.
Gegen 13:15 gehe ich schon wieder zum Futtern. Ich fahre Aufzug mit David
Howell (19, GB, 2611), Sohn eines Engländers und einer Bürgerin von Singapur.
Er ist die neue Hoffnung der Engländer. Am Buffet wähle ich Fisch mit Gemüse
und Salat. Nur nichts Schweres, was mich während der Partie belastet. Ich bin
jetzt voll auf Schach eingestellt, will nichts anderes mehr an mich
heranlassen. Um 14:20 werden wir mit dem Bus abgeholt und ins 11 km entfernte
Rijeka gebracht. Gegen 14:45 erreichen wir die nagelneue, soeben eröffnete
Mehrzweckhalle „Zamet“. Der Teppichboden erinnert
mich an Deizisau. Nur hier haben neben den 408
männlichen Teilnehmern auch noch die 158 Spielerinnen der Damenkonkurrenz
bequem Platz.
Ich habe gut Zeit, mich etwas umzusehen und zu akklimatisieren. Nach und nach
trudeln all die Weltklasse-Großmeister ein und halten untereinander Smalltalk.
Ich mache mein erstes Foto. Danach streikt die Kamera. ENTSETZEN! RATLOSIGKEIT!
Nun habe ich keine Zeit, mich darum zu kümmern. Ich lasse mich an meinem Brett
181 nieder und fülle das Partieformular aus. Es gibt hier sogar zwei
Durchschläge, also drei Blätter!
Um 15:23, also sieben Minuten vor Spielbeginn, ergreift der Hauptschiedsrichter
das Wort und weist in monotonem Englisch ganz streng auf einige technische
Dinge hin. Gespielt wird mit der Bedenkzeit „Fischer kurz“, das heißt, 90
Minuten für 40 Züge plus 30 Minuten für den Rest der Partie zuzüglich 30
Sekunden pro Zug vom ersten Zug an. Fünf Minuten vor Rundenbeginn müssen alle
Spieler an ihren Plätzen sitzen und startklar sein. Wer um 15:30 nicht auf
seinem Platz sitzt, wenn die Uhr eingeschaltet wird, hat verloren!
Es sind keine der üblichen Honoratioren
anwesend, die das Turnier feierlich eröffnen. Kein Funktionär rückt sich ins
rechte Licht. All dies hat bereits am Vorabend stattgefunden. Nach den Partien
müssen die Könige zum Zeichen des Partieausgangs auf die richtigen Felder im
Zentrum gestellt werden. Nach drei langen Minuten des stummen Wartens kommt das
Kommando. Die Partien dürfen aber erst begonnen werden, wenn die Schiedsrichter
die Uhren in Gang gesetzt haben. Dies ist jedoch nach wenigen Sekunden
geschehen, und ich führe meinen ersten Zug aus.
Erwartungsgemäß entsteht ein Paulsen-Sizilianer (ECO Code B 48). Ich bin
erstaunt, wie gut ich mithalten kann. Nach 14 Zügen hat er eine knappe halbe
Stunde mehr verbraucht als ich, und steht trotzdem nicht besser. Die Stellung
ist im strategischen Gleichgewicht. Ich fühle mich wohl! Nach dem 21. Zug hat
er nur noch 8 Minuten Bedenkzeit übrig. Inzwischen habe ich aber ziemliche Probleme,
überhaupt einen vernünftigen Zug zu finden. Ich werde nervös und greife prompt
fehl. Mit einem einzigen Zug verderbe ich die akzeptable Stellung und büße nach
weiteren vier Zügen einen Springer ein. Nachdem ich nicht einmal mehr im Trüben
fischen kann, werfe ich das Handtuch. Wenigstens habe ich mich über drei
Stunden wacker gehalten und erst dann einen schwachen Zug gemacht. Schade, aber
dieser Partieausgang war zu erwarten. Immerhin habe ich nicht schon früh auf
billige und peinliche Weise verloren. Das war vor der Partie meine größte
Befürchtung.
Der siegreiche Ungar ist gerne bereit, mit mir zu analysieren. Es stellt sich
heraus, dass ich mehrere starke Züge gemacht habe, die er lobend erwähnt.
Leider waren neben dem entscheidenden Fehler vorher auch drei Ungenauigkeiten
dabei, die zu der kritischen Stellung führten. Jedenfalls konnte ich auch in
der Analyse mit einigen brauchbaren Zugvorschlägen aufwarten. Ich bin erstaunt,
wie viel ich gesehen habe! Trotz der Null: So kann es ruhig weitergehen.
Um 20.00 besteige ich einen der Busse, der uns wieder nach Opatija
zurückbringt. Ich habe Pech und muss die gesamte Rückfahrt stehen. Da freut
sich mein Rücken überhaupt nicht. Dafür fülle ich meinen Bauch erneut mit
mediterranen Köstlichkeiten und beobachte dabei Gibraltar-Sieger Michael Adams,
wie er sich zwischen Apfel und Kiwi einfach nicht entscheiden kann. Wie am
Schachbrett…
Im Zimmer im 6. Stock gebe ich sofort die Partie ein, betrachte intensiv die
Analysezüge von Rybka und aktualisiere das Tagebuch.
Gegen 23:45 ist der erste volle Tag beendet. 0 aus 1.
Sonntag, 07.03.10:
Noch vor dem Frühstück eile ich zum Anschlagsbrett, an dem die Paarungen
der zweiten Runde hängen. Ich muss mit Schwarz gegen FM Torsten Sarbok (ELO 2319) ran. Er spielt aktuell in der Bundesliga
für König Tegel, und 2008 hat er in Cesenatico
mitgespielt. 5,5/9 hat er dort erzielt. Er zieht 1. e4. Ich schaue mir also
ausgiebig Französisch-Partien an. Das ist deshalb nötig, weil er die Systeme
variiert.
Ich fühle mich müde und abgespannt. Dabei bin ich ausgeschlafen und habe keine
anstrengende Tätigkeit hinter mich gebracht. Ich brauche dringend mehr Bewegung
und frische Luft. Aber erstens ist es heute unangenehm kalt und zweitens ist
Sonntag, das heißt, auf den Straßen ist absolut nichts los. Aber ab Montag muss
sich der Tagesrhythmus ändern. Meine Augen brennen vom ewigen Gaffen auf den
Plastikdepp. Also wechsle ich das Gerät gegen das gute alte Schachbrett mit
Figuren aus und spiele eine von Magnus Carlsen kommentierte Partie gegen
Vladimir Kramnik nach. Es ist ein Genuss, mit welcher Leichtigkeit der
begnadete Norweger zu Werke geht. Warum kann ich nicht ein Stück seines Genius
abhaben?
Im Bus setzt sich GM Evgeny Alexejew
(RUS, ELO 2700) ganz hinten neben mich. Ich nutze die Gelegenheit, um meine
inzwischen traditionelle Autogrammjagd zu beginnen. Bereitwillig signiert er.
Im Spielsaal folgen Boris Grachev (RUS, 2667), von
dem ich vorher nicht einmal namentlich gehört habe, Evgeni Bareev
(RUS, 2667), der alte Haudegen, der aber immer noch eine scharfe Klinge
schlägt, Alexander Moiseenko (UKR, 2668), Ian Nepomniachtchi (kein Schreibfehler!), (RUS, 2656), dessen
Unterschrift in lateinischen Buchstaben so gar nicht seinem Namen ähnelt, sowie
Sergej Grigoriants (RUS). Angesichts der Flut von
Großmeistern sammle ich nur noch ab einer ELO von 2600. Nur ab und zu rutscht
mir einer wie Grigoriants dazwischen, der aktuell mit
2562 notiert ist.
Ein ewig junges Thema ist die Kleidung der Schachspieler. Der tschechische
Frontmann, David Navara, (2706) ist an für sich ein
sehr sympathischer Zeitgenosse. Er trägt wieder einmal seinen mir inzwischen
gut bekannten cremefarbenen, deutlich zu großen Anzug mit Krawatte. Dagegen ist
im Prinzip nichts zu sagen, wenn da nicht ein zerknitterter, knallblauer Anorak
wäre, den er zum Schutz gegen die Kälte darüber trägt. Einfach fürchterlich,
dieser Anblick! Beim Betrachten von Khismatullins
hellblau-weiß gemusterten Shorts (!) wird mir schwindelig. Spiralen, Dreiecke
und andere geometrische Formen verwirren das Auge! Dem bulligen Russen ist
nichts peinlich genug. GM Alexejew (2700) tritt in
einem weißen T-Shirt mit großer Goofy-Figur an. Das sieht einfach lächerlich
aus! Offenbar haben sich auch manche Russen dem unterirdischen Niveau des
ehemaligen Klassenfeindes angepasst!
Gegen 15:20 strebe ich zu meinem Brett 185, um mich geistig auf die Partie
einzustellen. Ich fülle das Partieformular mit den üblichen Daten aus, als mein
Gegner, ein sympathischer Berliner, am Brett erscheint und mich freundlich
begrüßt.
Die Szene wird von der schnarrenden Ansage des Oberschiedsrichters jäh
unterbrochen: „TAKE YOUR SEATS, PLEASE! FIVE MINUTES MISSING TO START!“ Wir
alle sitzen also diese fünf Minuten stumm am Brett ab, bevor die Armada der
Schiedsrichter, 19 an der Zahl, die Uhren in Gang setzt. Zusätzlich gibt es
noch vier Chefschiedsrichter.
Sarbok erwischt mich eröffnungstheoretisch auf dem
falschen Fuß. Die ganze Vorbereitung ist umsonst! Eigentlich habe ich gegen
sein gewähltes System schon eine Variante parat, aber dadurch, dass das so
selten dran kommt, habe ich das weitgehend vergessen. Jedenfalls fühle ich mich
unsicher und spiele eine etwas minderwertigere Fortsetzung. Im 7. Zug entkorkt
er eine Überraschung, die mich völlig aus der Bahn wirft. Anstatt kühlen Kopf
zu bewahren, denke ich viel zu kompliziert und noch dazu verkehrt. Ich bin von
Anfang an auf dem falschen Dampfer und komme überhaupt nicht recht in die
Gänge.
Um den 20. Zug herum habe ich einen Bauern weniger, dafür steht einer seiner
Springer traurig auf a3, und ich bin stolzer Besitzer eines klassischen
Vollzentrums, bestehend aus e5 und d5! Ich fühle mich erstmals in der Partie
wohl und denke, dass das eine ausreichende Kompensation sein sollte. Wie er
aber später in der Analyse feststellt, ist das nicht der Fall. Das Zentrum ist
schwach, und auch sein arbeitsloses Ross galoppiert via c2 und e3 rasch ins
Zentrum zurück.
Tja, irgendwo müssen ja die rund 400 ELO-Punkte Unterschied herkommen! Und so
nehmen die Dinge ihren unvermeidlichen Lauf. Das Zentrum fällt schnell
auseinander, ein zweiter Bauer geht verloren, sein Turm besetzt die e-Linie und
droht im Verbund mit beiden Springern matt oder Läufergewinn. Der
berühmt-berüchtigte Franzosenläufer steht auch in der Schlussstellung noch auf
seinem Ursprungsfeld c8. Im Foyer erstehe ich eines der Plakate, die anlässlich
dieser Europameister-schaft gedruckt wurden.
Wenigstens finde ich diesmal einen Sitzplatz im Bus.
Nach dem Essen surfe ich erstmals an einem der kostenlosen Internetbildschirme.
Bayern nur 1:1 in Köln, aber Leverkusen hat in Nürnberg verloren. Gut so. Gegen
21:00 erscheint die Auslosung für die 3. Runde. Ich werde gegen Per Ofstad aus Norwegen gelost (ELO 2169), der, wie sich
herausstellt, bereits 1958 an der Schacholympiade in München für Norwegen am
Start war!
Er hat gegen die gesamte damalige Weltklasse gespielt: Bent Larsen (DK), der
gerade 75. Geburtstag feierte und damals nach Bobby Fischer der stärkste
Großmeister der westlichen Hemisphäre war, Lajos Portisch
(HUN), mehrmaliger Teilnehmer an den Kandidatenmatches zur Weltmeisterschaft
und jahrzehntelange Nummer 1 der Ungarn, der Österreicher Karl Robatsch, der so viel für die Moderne Verteidigung
beigetragen hat (1…g6), Heikki Westerinen, ein
bärenstarker Finne in den 60er und 70er Jahren, Boris Ivkov,
damals Jugoslawiens bester Mann neben der Legende Svetozar Gligoric
und viele mehr. Ich hoffe sehr, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Der Mann hat
garantiert viel zu erzählen!
Lustlos gebe ich die heutige Partie in meine Datenbank ein und beende den Tag
gegen 23:00. 0 aus 2.
Montag, 08.03.10:
Strahlender Sonnenschein macht mir das Aufstehen leicht. Ein Schritt auf den
Balkon um 07:32 verrät mir, dass es heute wohl deutlich wärmer wird als in den
letzten Tagen. Im Aufzug komme ich mit einem isländischen Großmeister ins
Gespräch. Ein sehr netter Mann, der nicht nur gut deutsch spricht, sondern seit
2008 auch für Schwerin in der Oberliga „Nord Nord“
spielt. Aktuell hat er eine ELO von 2494, was ihn nicht davon abhält, von der
Qualifikation für den Weltcup zu träumen. Ganz schön optimistisch! Unter www.wikipedia.org/wiki/henrik_danielsen
finden sich viele weitere Informationen über diesen interessanten Menschen!
Nach dem Frühstück feile ich am Tagebuch. Gegen 10:20 hole ich mir aus dem
Internet einige Detailinformationen über das Turnier. Aus den geplanten zehn
Minuten wird eine geschlagene Stunde. Die Suche nach Online-Trainingsangeboten
hat mich auf der Datenautobahn hin und her düsen lassen. Ich mache mich also
erst um 11:30 auf die Socken, um die Stadt zu erkunden. Es bläst nach wie vor
ein eisiger Wind, was mich nach sieben Minuten wieder umkehren lässt, längst
bevor ich das Stadtzentrum erreicht habe. Meine Ohren schmerzen, und ich habe
Angst, mir einen Schnupfen oder gar Schlimmeres einzufangen. Da hat mich mein
morgendlicher Eindruck auf dem Balkon gewaltig getäuscht.
Die Vorbereitung auf Caro-Kann wird abgekürzt. Die
Variante, die vermutlich gespielt werden wird, ist in der Datenbank nur
spärlich vertreten. Diesmal werde ich mich mehr auf meine gedruckten Unterlagen
verlassen. Ich bin deutlich früher beim Mittagessen, wodurch ich etwas Zeit für
eine Siesta gewinne. Vielleicht ist das die bessere Strategie, am Brett zum
Erfolg zu kommen.
Ab heute fahren die Busse von einer anderen Bushaltestelle ab und zwar erst um
14:40. Um diesen Punkt zu erreichen, ist ein steiler Treppenaufstieg hinauf zur
Hauptstraße nötig, der mich gewaltig außer Puste bringt. Aber genau das bringt
meinen Kreislauf in Schwung und tut mir ausgesprochen gut. Leider Gottes hält
der extrem lange Gelenkbus einige Meter vor dem Punkt, an dem ich stehe, so
dass ich das Monster erst dann entern kann, als alle Sitzplätze belegt sind.
Das heißt also, dass ich mich eine knappe halbe Stunde im Stehen mit beiden
Händen am oberen Gestänge festhalten muss, um die kurvige, unruhige Fahrt
schadlos zu überstehen. Eine optimale Einstellung auf die Partie sieht anders
aus. Auch anderen geht dieser tägliche Transport bereits nach wenigen Tagen auf
die Nerven.
Heute erhalte ich Autogramme von Alexander Riazantsev
(RUS, 2660), Boris Savchenko (RUS, 2652), Vladimir Potkin (RUS, 2606), Ioannis Papaioannou (GRE, 2630, endlich
mal kein Osteuropäer!) sowie Titelverteidiger Evgeny Tomashevsky (RUS, 2701). Aber es fehlen noch so viele
Topleute: Ernesto Inarkiev (RUS, 2667), Viktor Bologan (MDA, 2684), Ivan Sokolov
(BIH, 2634) und viele mehr. Ich breche etwas früher ab, in der Hoffnung, meinen
Gegner bereits am Brett vorzufinden, und ich habe Glück! Sofort spreche ich ihn
auf die Olympiade 1958 in München an, mein Geburtsjahr und seit nunmehr 22
Jahren meine Heimatstadt. Es sprudelt vom ersten Moment an nur so aus ihm
heraus. Die damalige Olympiade fand im Kongresssaal des Deutschen Museums an
der Ludwigsbrücke statt und sie ist ihm in bester Erinnerung. Er berichtet von
mehrfachen Besuchen des Deutschen Museums, das ihn sehr beeindruckt haben muss.
Dann kommt er zum Thema Seniorenschach. Er ist für die Europäische Schachunion
(ECU) aktiv und verantwortlich für die jährlich stattfindende
Senioren-Mannschafts-Europameisterschaft. In den letzten Jahren fand diese
stets im Dresdner Ramada-Hotel statt. Nun soll der
Austragungsort wieder jährlich wechseln, denn nach seinen Worten soll es „kein
Turnier für die Reichen, sondern eines für die Besten sein!“ Er spielte damit
auf das Fehlen starker Schachnationen wie Tschechien, die Slowakei, Polen,
Ungarn, Rumänien, Bulgarien oder Moldawien an. Die meisten dieser Spieler
können sich einen langen, teuren Aufenthalt im Westen nicht leisten. Leider
blökt dann der Schiri wieder seinen vorgestanzten Satz ins Mikro: „FIVE MINUTES
MISSING TO START!“ und die höchst interessante Konversation hat schon wieder
ihr Ende gefunden, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat – leider!
Von wegen Caro-Kann. Er spielt 1…e5! Endlich mal
wieder ein ordentlicher Spanier. Aus der Eröffnung kann ich zwar keinen Vorteil
erzielen, trotzdem ich stehe nicht übel. Recht überraschend erhalte ich
Angriff, den ich mit einem Springerscheinopfer einleite. Die Initiative gehört
mir, aber er verteidigt umsichtig. Als die Zeit für beide knapp wird, gewinne
ich einen Bauern, aber er verfolgt mit beiden Türmen meine Dame, die sich
diesen Angriffen nicht entziehen kann. Nach der Zeitkontrolle wird die
Zugwiederholung ausgeführt, und wir vereinbaren die Punkteteilung. Mein erstes
zählbares Ergebnis ist unter Dach und Fach, immerhin gegen ELO 2197! Zu einer
gemeinsamen Analyse kommt es leider Gottes aus Zeitgründen nicht. Dabei gäbe es
so viele kritische Stellungen zu untersuchen. Es ist 19:45, und Abendessen im
Hotel gibt es bis maximal 21:00. Wenn doch diese dämliche Busfahrerei nicht
wäre!
Die Schweden Emanuel Berg und Pontus Karlsson,
letzterer dunkelhäutig, sind bereits aufs Taxi umgestiegen. Das wäre doch ein
Job für mich! Den Weg von Opatija nach Rijeka und
zurück würde ich auch ohne kroatische Ortskundeprüfung finden! Immerhin
ergattere ich einen Sitzplatz im Bus und verkürze die Zeit durch Schmökern in
einem der Schachmagazin 64 Hefte.
Nach den kulinarischen Wonnen ist „Studium der Auslosung“ angesagt. Ich muss
gegen den ersten Kroaten in diesem Turnier antreten: mit Schwarz gegen Damir Mihalinec (2232). Laut Database spielt auch er 1. e4, aber
wie die ersten Runden gezeigt haben, darf man sich nicht blind auf die
Datenbank verlassen. Ich bin guten Mutes und habe mir zum Ziel gesetzt,
erstmals mit Schwarz zu punkten!
Bis um 0:30 sehe ich mir Französisch-Partien an und analysiere meine heutige
Partie ausgiebig. Rybka verrät mir, dass Ofstad mein Springeropfer durchaus annehmen hätte können,
wonach er auf Gewinn gestanden wäre. Beide Spieler übersahen die vorhandene
Verteidigungsressource. Später gab es für mich drei (!) Gelegenheiten, relativ
simpel zum Erfolg zu kommen. Ein weiterer Bauerngewinn war möglich, und mit
zwei verbundenen Freibauern auf der a- und b-Linie wäre die technische
Umsetzung selbst für mich einfach gewesen. Die Zeitnot trug zu ziemlich krasser
Schachblindheit bei. Trotzdem bin ich insgesamt doch zufrieden, denn wie
geschildert, hätte ich viel früher recht schnell verlieren können. 0,5 aus 3.
Dienstag, 09.03.2010:
Großmeister David Howell scheint Frühaufsteher zu sein. Um kurz nach 8:00 kommt
er mir bereits vom Frühstückssaal entgegen. Nach Obst- und Müsliorgie
recherchiere ich wieder einige Details im Internet. Danach wird das Tagebuch
aktualisiert, und ich kümmere mich endlich um die Kamera. In 20 Minuten ist das
Problem gelöst. Der Blendenring war in Verbindung mit dem Blitzgerät in der
falschen Position. Ab 11:00 steht Französisch-Theorie mit Buch und Brett auf
dem Trainingsplan.
Wenn das so weitergeht, habe ich nach diesen zwei Wochen den Fischbestand der Adria
ganz alleine weggefuttert! Heute sind es geschätzte 10-15 kleine Sardinen zur
Vorspeise sowie drei große Scheiben gegrillter Thunfisch.als
Hauptgang. Trotz all der Verlockungen achte ich stets darauf, nicht zu fett und
auch nicht zu viel zu essen. Gemüse, Salat und Obst steht regelmäßig auf meinem
Speiseplan. Auf süße Nachspeisen verzichte ich grundsätzlich. Da bin ich ganz
Asket!
Heute habe ich genug Zeit für eine ausgiebige Siesta, was nach einer relativ
kurzen Nacht dringend nötig ist. Beim täglichen Gang zum Bus fühle ich mich
blendend. Vor Rundenbeginn erfolgt eine längere Ansage der Turnierleitung. Es
gibt zahlreiche Beschwerden aus der Teilnehmerschaft, die „Null-Toleranz-Regel“
betreffend. Nach der zweiten Runde wurden fünf Spieler genullt, weil sie bei
Freigabe der Runde nicht am Brett saßen. Sie hatten den letzten Bus in Rijeka bestiegen,
der erst wenige Minuten vor 15:30 vor der Halle eintraf. Die Verspätung betrug
tatsächlich nur einige Sekunden, was der Turnierleitung zur Nullung
reichte. Das ist eine Farce!
Die Ablehnung der Regeländerung (bis zu 30 Minuten Toleranz) wird damit
begründet, dass man laut Statuten nach drei gespielten Runden die Regeln nicht
mehr ändern kann. Dies trübt die allgemein gute Stimmung, denn ansonsten passt
alles. Die Kroaten haben keine Kosten und Mühen gescheut, ein perfektes Turnier
auf die Beine zu stellen. Alle 566 Teilnehmer sowie Funktionäre, Trainer und
Betreuer haben in der riesigen Halle reichlich Platz, auch die Patzer spielen
an edlen Holzbrettern mit neuen Holzfiguren, im Foyer gibt es kostenlosen
Internetzugang, und die Teilnehmer können frei wählen zwischen verschiedenen
Teesorten, Kaffee und Mineralwasser.
Der Ergebnisdienst ist erstklassig. Drinnen und draußen gibt es je einen großen
Bildschirm mit den aktuellen Paarungen. Ist eine Partie beendet, steht das
Ergebnis wenige Minuten später in der Liste. Auf zwei großen Leinwänden ist
jeweils die Spitzenpaarung bei den Herren und den Damen zu sehen. Die Partien
an den ersten fünfzig (!) Brettern werden live ins Internet übertragen! Im
ersten und zweiten Stock stehen ausreichend Analysebretter zur Verfügung, die
Garderobe wird den Teilnehmern von äußerst charmanten und attraktiven Mädels
abgenommen, und ein Sicherheitsdienst sorgt im Eingangsbereich dafür, dass den
Superhirnen nichts passiert.
Den Gesamtpreisfonds kann man getrost als
üppig bezeichnen. 120.000,- Euro bei den Herren und 60.000,- Euro bei den Damen
sind ausgelobt! Hinzu kommen 15 Spezialpreise bei den Herren sowie 10 bei den
Damen. Diese Spezialpreise werden nicht wie bislang üblich in Ratingkategorien
verteilt, sondern nach einem relativ neuen System vergeben, das auch schon in
Gibraltar angewendet wurde. Demnach spielt die erreichte Punkteanzahl im
Turnier überhaupt keine Rolle. Vielmehr zählt die einfache Formel „Leistung im
Turnier abzüglich aktueller ELO-Zahl“. Hier habe also auch ich gute Chancen,
sogar deutlich bessere als Spieler mit einer hohen aktuellen ELO. Bei den
Herren qualifizieren sich die ersten 23 Spieler für den nächsten Weltcup. Das
setzt ein Ergebnis von „+4“ voraus, was 7 ½ Punkten entspricht. Das ist eine
knallharte Auslese.
Obwohl Kroatien eine traditionelle Schachnation ist, sehe ich nur ganz
vereinzelt Personen mit einer Besucherakkreditierung. Das ist gleichermaßen
überraschend wie schade, und so sind wir Schächer wieder einmal fast unter uns.
Die heutigen Autogramme stammen von Denis Khismatullin
(RUS, 2657), Artyom Timofeev
(RUS, 2655), Ernesto Inarkiev (RUS, 2667), Igor Kurnosov (RUS, 2655) sowie den Brüdern Sergei und Andrej Zhigalko (2648 und 2587, aus Weißrussland). Inarkievs Eltern waren glühende Verehrer von Ernesto „Che“ Guevara, des charismatischen kubanischen
Revolutionärs. Deshalb gaben sie ihrem Sohn den spanischen Vornamen Ernesto!
Sachen gibt`s…
Damir Mihalinec, ein Mittdreißiger mit weißem Hemd,
dunkelblauem Pollunder und offenem, sympathischem
Gesicht sitzt mir gegenüber und begrüßt mich freundlich. Es kommt genau meine
vorbereitete Variante dran. Sein 10. Zug passt überhaupt nicht ins System, was
ihn wenig später zwei weitere Tempi kostet. Ich aber finde den richtigen Plan nicht!
Nach einem weiteren zweitklassigen Zug des Weißen lasse ich eine ausgezeichnete
Erwiderung aus, weil ich die relativ simple Taktik nicht sehe. Nach dem 19. Zug
ist es bereits aus! Zum ersten Mal bin ich richtig sauer über meine gesammelten
Unzulänglichkeiten. Ich beschimpfe mich innerlich selbst: Dilettant, Amateur,
Nichtskönner!
Nach der gemeinsamen Analyse, die einige meiner Fehler schonungslos aufgedeckt
hat, beobachte ich die Analyse der Partie Sergey Movsesian
(2709) – Joan-Cristian Chirila (2487). Es ist einfach
nur faszinierend, mit welcher Geschwindigkeit Movsesian
Varianten aufs Brett schleudert. Damit macht er seinen Gegner genau so
sprachlos wie mich! Und es sind keine Allerweltszüge,
die er blitzartig aus dem Handgelenk schüttelt. Da sind auch studienartige
Verteidigungszüge dabei, die sein Gegner in den diversen Eventualwendungen drin
gehabt hätte! Unter anderem sind es diese kleinen Erlebnisse, die mir an einer
solchen Veranstaltung so gut gefallen. Ich kann ganz nah am Geschehen teilhaben.
Wenig später sitze ich mit zusammengepressten Lippen und verschränkten Armen
verbissen im Bus Richtung Opatija. Die heutige Null
wurmt mich doch sehr!
Morgen habe ich Weiß gegen einen weiteren Kroaten, Brian Dinter (2124). Es ist
der erste Gegner, von dem leider keine Partien in meiner Datenbank zu finden
sind. Sein einziges Remis hat er immerhin gegen den Schweizer IM Beat Züger
(2425) erzielt. Ich gebe meine heutige Partie ein, worauf mir Rybka in Sekundenschnelle die bereits erwähnten Fehler
aufzeigt.
Nach vier Runden gibt es nur noch zwei Spieler mit weißer Weste: Baadur Jobava (GEO, 2695) sowie
Bahar Efimenko (UKR 2640). Beim Bundesliga-Wochenende
Ende Februar in Mülheim kam Letzterer gegen unser ehemaliges Mitglied und
Partieanalysten, IM Stefan Bromberger, nicht über ein Remis hinaus… Eine ganze
Reihe weitgehend unbekannter Akteure hat sich überraschend in den Vordergrund
gespielt. Spieler wie den titellosen Tamir Nabaty (ISR, 2485), den Weißrussen Nikita Maiornov (2510), IM Jure Skoberne
(SLO, 2509), Gergely-Andras-Gyula Szabo (ROU, 2525),
oder Konstantin Lupulescu (ROU, 2598) konnte man
wirklich nicht in der Spitzengruppe erwarten. Alle weisen 3,5 Punkte auf.
Andererseits gibt es natürlich auch Favoritenstürze. Gleich vier Spieler aus
der seltenen Reihe der 2700er finden sich mit 2,5 Zählern im gehobenen
Mittelfeld wieder, darunter der Titelverteidiger Evgeny
Tomashevsky (2701). Aber auch der zweite der
Setzliste, Etienne Bacrot (FRA, 2714), in Gibraltar
im Januar noch unter den Punktgleichen an der Spitze, David Navara,
der Mann mit den Schlabberhosen, (CZE, 2708) und Alexander Motylev
(RUS, 2705) dürften mit diesem Zwischenergebnis kaum zufrieden sein. Meine 0,5
aus 4 sind aber auch nicht gerade die Offenbarung!
Mittwoch, 10.03.10:
Ich beginne mit einem neuen Strategiebuch, mit dem ich mich anlässlich
meines guten Abschneidens in Bad Wiessee im November
2009 belohnt hatte. Titel: „Schachstrategie der Weltklasse“. Darin werden in 15
Trainingslektionen die Partien des ehemaligen Spitzengroßmeisters Ulf Andersson
aus Schweden untersucht. Mal sehen, ob’s was hilft…
Als ich nach dem Mittagessen aus dem Fenster sehe, traue ich meinen Augen kaum.
Der Sturm der letzten Nacht hat schwere graue Wolken heran geweht, die sich nun
heftig entladen und zwar in Form von Schnee! Da dachte ich, einer eventuellen
Rückkehr des Winters in Deutschland entronnen zu sein, stattdessen verfolgt
mich Väterchen Frost bis an Opatijas Adriaküste! Von
einer der charmanten Garderobieren erfahre ich, dass dies der erste Schnee seit
zehn Jahren in der Region ist. Ein seltenes Fotomotiv! Wenig später warten wir
alle fröstelnd im Schneegestöber auf die Busse. GM Baadur
Jobava hat eine geöffnete Bierflasche in der Hand und
nimmt ab und zu einen Schluck. Ob das die geeignete Vorbereitung auf eine
schwere Schachpartie ist?
Auf Wunsch vieler Spieler wurde die Abfahrtszeit von 14:30 auf 14:40 verlegt.
Andererseits gibt es die aktuelle Petition an die Organisatoren und die
Europäische Schachunion, die von 110 Spielern unterschrieben wurde. Wie passt
das zusammen? Hat ein Bus einen Unfall oder einen technischen Defekt, verbleibt
noch weniger Zeit, um rechtzeitig am Brett zu sitzen! Übrigens wurde mir die
Petition nicht vorgelegt. Ich habe von der Aktion erst auf der Chessbase-Seite erfahren. Wäre ich informiert worden, hätte
ich mit Sicherheit ebenfalls unterschrieben! Speziell in einem Fall wie hier in
Rijeka, wenn die Spieler mit Bussen aus einem anderen Ort transportiert werden,
ist eine differenzierte Regelauslegung dringend geboten. Aber es wird strikt
nach Statut entschieden.
Mangels vorhandener Partien meines heutigen Gegners gehe ich unvorbereitet,
aber doch guten Mutes ans Werk. Brian Dinter dürfte Mitte bis Ende 30 sein. Er
ist schlank, fast dünn und trägt einen kurzen Kinnbart. Meine allgemeine
Textilkritik straft er Lügen. In einem edlen Nadelstreifenanzug samt weißem
Hemd und lilafarbener Krawatte sitzt er mir gegenüber!
Nach wenigen Zügen entsteht eine undefinierbare Eröffnung, eine Mischung aus Caro-Kann Vorstoßvariante und Moderner Verteidigung. Ich
muss vom ersten Zug an nachdenken, um eine gute Aufstellung zu finden und kann
mich nicht auf bewährtes Wissen stützen. Das kostet viel Zeit und Energie.
Meine Züge 9 und 10 sind suboptimal, aber auch der Gegner schätzt die Lage
falsch ein. Er kompliziert die Stellung im Zentrum derart, dass mir phasenweise
der Überblick verloren geht. Wir behandeln beide mehrfach die Position falsch.
Am Ende dieser Scharmützel stehe ich zwar mit einem Mehr-Doppelbauern, aber mit
deutlich schlechterer Stellung da. Er ist voll entwickelt. Bis auf einen Turm
üben seine Figuren unangenehmen Druck aus. Mein König steht noch in der Mitte,
und ich suche vergeblich nach guten Feldern für meine Figuren.
Er steht klar besser, aber mit umsichtiger Verteidigung und Rückgabe des
Mehrbauern kann ich entscheidenden Nachteil vermeiden. Nach und nach entlaste
ich mich durch Abtausch seiner besten Figuren. Nach diesen Vereinfachungen
fällt es mir leichter, schneller zu spielen, um den Zeitdruck nicht zu groß werden
zu lassen. Kurz vor der Zeitkontrolle entsteht ein Turmendspiel mit einem
Minusbauern für mich. Im 39. Zug glaube ich, dass er eine Gewinnfortsetzung
ausgelassen hat, was sich bei der nächtlichen Analyse bestätigt.
Er gewinnt zwar einen zweiten Bauern und hat nun drei Bauern gegenüber einem
von mir, aber durch geschickte Verteidigung, gestützt durch mein Wissen, dass
ein einzelner Randbauer bei entsprechender Königstellung der verteidigenden
Seite nicht gewinnen kann, gelingt es mir, genauso zu spielen, dass zwangsweise
eben dieser h-Bauer übrig bleibt. Wohl aus Frustration darüber, dass er diese
theoretische Stellung nicht gewinnen kann, quält er mich noch 27 Züge lang.
Aber ich bleibe ganz ruhig und führe die korrekten Verteidigungszüge sicher
aus. Nach 76 Zügen und viereinhalbstündiger
Verteidigungsschlacht sieht er es endlich ein und akzeptiert die Punkteteilung.
Dieses Remis war zugegebener Maßen glücklich, aber mit eisernem Willen hart
erkämpft. Meine Bemühungen wurden letztlich belohnt, und an verschiedenen
Stellen habe ich gesehen, dass er eben auch nicht immer richtig lag. Deshalb
ist das Ergebnis meines Erachtens verdient. Mit meiner niedrigen Zahl von 1877
spielt jeder
konsequent auf Gewinn. Niemals kann ich auf eine frühere Punkteteilung aus
Respekt hoffen. Ich muss mir jeden halben Punkt ganz hart erarbeiten.
Ich staube noch ein Autogramm des Ungarn Ferenc Berkes
(2659) ab und treffe um 21:00 abgespannt, aber zufrieden im Hotel ein. Nach dem
Essen drücke ich mich bis 22:15 in der Hotelhalle vor dem Computer herum, um
auf die Auslosung zu warten. Ein Ergebnis fehlt noch in der langen Liste, warum
auch immer. Schließlich erschöpft sich meine Geduld, und ich trolle mich ohne Gegnerinformation aufs Zimmer. Bis um 01:33, also mehr als
drei Stunden, beschäftige ich mich intensiv mit der heutigen Partie!
Mit dem Zwischenergebnis von 1 aus 5 bei einem Gegnerschnitt
von stolzen 2275 bin ich zufrieden. Ich hoffe, dass ich dieses Niveau auch in
der zweiten Turnierhälfte halten kann. An der Spitze tummeln sich vier Spieler
mit je 4,5 Zählern: Artyom Timofeev
(2655, RUS), Baadur Jobava
(GEO, 2695), Zahar Efimenko
(2640, UKR) sowie Liviu-Dieter Nisipeanu (2661, ROU),
einer der Ex-Europameister. Weiß der Geier, wie der arme Kerl zu diesem
Vornamen kam!
Donnerstag, 11.03.10:
Der Schnee ist weitgehend liegen geblieben. Ich greife die Kamera und lichte
diesen seltenen Moment vom Balkon aus verschiedenen Blickwinkeln ab. Der zweite
Computer im Hotelfoyer funktioniert wieder. Endlich hole ich mir die Information,
die mir die ganze Nacht gefehlt hat! Mein Gegner heißt Schweitzer, ist aber Ösi! Seinen bisher einzigen Punkt hat er gegen einen
ELO-losen Kroaten geholt. Die übrigen Gegner waren eine Nummer zu groß für ihn.
Seine ELO beträgt 2081. Ich werde einen neuen Anlauf unternehmen, endlich etwas
Zählbares mit Schwarz herauszuholen.
Immerhin sind in der Datenbank 12 Partien mit Weiß von ihm vorhanden,
allerdings sieben davon mit 1. Sc3. Die weiteren fünf hat er mit 1. e4
begonnen. Nun muss ich mich also mit so einem Käse wie 1. Sc3 herumschlagen.
Reine Zeitverschwendung! Aber es ist besser, vorher etwas Zeit zu investieren
als in der Partie dann ratlos dazusitzen. Eine der vorhandenen Partien hat es
mir sehr angetan. Der Schwarze hat ihm dieses dubiose 1. Sc3 so dermaßen um die
Ohren gehauen, dass ich mir diesen Aufbau bis zum 12. Zug gerne einpräge!
Am Brett erfolgt dann allerdings 1. e4! Es entsteht ein Tarrasch-Franzose
mit einer scharfen weißen Fortsetzung im 9. Zug. Vor Jahren habe ich mir diese
Variante mal angesehen, bin mir nun aber nicht mehr sicher, wie ich das am
besten behandeln soll. Ich wähle eine „sichere“ Fortsetzung, die ein
Qualitätsopfer samt Rochadeverlust beinhaltet, von der Theorie aber mit
Ausgleich bewertet wird. Er verschmäht aber die Qualität und setzt „normal“
fort. Es entwickelt sich ein zähes Ringen um kleine Vorteile. Beide Spieler
verbrauchen eine Menge Bedenkzeit, denn das Brett ist voller Figuren, und es
gibt naturgemäß eine Vielzahl von möglichen Fortsetzungen. Ich beiße mich
richtig in die Partie hinein, denn heute will ich endlich mit Schwarz punkten!
Lange Rede, kurzer Sinn, die Zeitkontrolle schaffen wir gerade mal so, und auch
die restliche halbe Stunde, die jeder Spieler zur Verfügung hat, geht langsam
zur Neige. Mittlerweile ist für mich ein haushoch gewonnenes Turmendspiel mit
zwei verbundenen Freibauern am Damenflügel entstanden. Längst führen wir unsere
Züge im Blitztempo aus. An einer Stelle hat der Ösi
Schweitzer noch 36 Sekunden auf der Uhr, ehe er durch mehrmalige schnelle
Zugfolgen sein Zeitkonto wenigstens auf ein paar Minuten aufstocken kann. Im
73. Zug biete ich selbstsicher Turmtausch an, dem er mittels eines Schachgebots
ausweicht. Ich gehe mit meinem König einen Schritt zur Seite, worauf er
aufgibt! Einer der Schiedsrichter, der die Schlacht mit verfolgt hat, weist
sofort darauf hin, dass Turmtausch remisiert hätte! Jeder von uns hätte einen
Freibauern zur Dame verwandelt, und es wäre ein stark remisverdächtiges
Damenendspiel entstanden.
Der arme Österreicher fällt aus allen Wolken und tut mir wirklich leid! Wie
heißt es so schön: Der vorletzte Fehler gewinnt! Und den habe in diesem Fall
ich gemacht. Nach 5 ¼ Stunden bin ich total erledigt, aber überglücklich über
meinen ersten Sieg! Erst langsam kehre ich geistig wieder in die reale Welt
zurück. Ich bin kaum fähig, die Partieformulare zu signieren, so zittrig ist
meine rechte Hand. Meine Notation der Züge gleicht der eines Greises! Ich sehe
mich um – es ist niemand mehr da! In der riesigen Halle herrscht gähnende
Leere. Ich hatte die längste Partie des Tages, und so fühle ich mich auch!
Um 21:00 fährt der letzte Bus Richtung Opatija ab.
Schnell noch auf die Toilette, denn dass ich aufs Klo muss, habe ich in diesem
Zeitnotgemetzel schlicht verdrängt! Per Zufall komme ich mit dem bulgarischen
GM Alexander Delchev (2637) ins Gespräch. Im Bus
erzählt er mir, dass er daran denkt, künftig mehr und mehr als Schachtrainer zu
arbeiten, weil das Feuer und die Energie in ihm nachgelassen hat, das man
unbedingt braucht, wenn man auf Dauer Erfolg im Spitzenschach haben will. Er
nennt mir diverse Namen seiner Schüler und deren Erfolge. Wir tauschen
E-Mailadressen aus. Wenn die Konditionen passen, werde ich vielleicht sein
Schüler! Er macht mir ein Open Anfang Oktober 2010 in der Nähe von Sofia
schmackhaft. Die Umgebung soll reizvoll, die Preisgelder hoch und die Kosten
niedrig sein.
Beim Abendessen sucht GM Henrik Danielsen, der
gebürtige Däne und Auswanderer nach Island, Gesprächskontakt mit mir. Sein
Deutsch ist ausgezeichnet. Wir unterhalten uns sehr angeregt, und er erzählt
mir ungewöhnlich offen allerlei Geschichten aus seinem bisherigen Leben. Trotz
der fortgeschrittenen Stunde gibt es zum Glück noch genug zu essen. Die
Information, ab 21:00 sei der Speisesaal geschlossen, ist zum Glück falsch. Bis
kurz vor 23:00 sitzen wir in dem großen Saal.
Selbst danach kann ich die Auslosung für die siebte Runde nicht abrufen, denn
im Damenturnier gibt es einen Streitfall, der am Abend vom
Schiedsrichterausschuss beraten und entschieden werden muss. Zwecks
Gleichbehandlung beider Turniere wird deshalb die Auslosung des Männerturniers
zurückgehalten.
Heute wurden alle Teilnehmer von den Organisatoren mittels Eintrittskarte zu
einer „Players Party“ am morgigen Freitagabend eingeladen. Ab 22:00 wird man
sich in der Hemingway Bar treffen. Ein Drink ist frei. Grund genug, wenigstens
mal herein zu schnuppern. Immerhin springen hier genügend attraktive
Osteuropäerinnen herum!
Außerdem werden für den spielfreien Samstag vier verschiedene Bustouren mit
Führung in die Umgebung angeboten. Eine davon werde ich wahrnehmen, denn der
Preis ist mit 14,- Euro äußerst günstig.
Wieder kann ich auf meinem Zimmer nicht widerstehen, meine Partie noch
einzugeben und bis tief in die Nacht zu analysieren. Das einzige, worüber ich
mich freue, ist der Punkt. Die Qualität der Partie jedoch ist unterirdisch!
Jeder der beiden Spieler hätte ungefähr achtmal gewinnen können. Das ist schon
fast peinlich und erinnert mich an meine Zeit als Jugendleiter in den achtziger
Jahren, als bei meinen Zöglingen die Gewinnmöglichkeiten von Zug zu Zug
wechselten!
Egal, der Punkt ist im Sack, und mit meinen 2 aus 6 bin ich punktgleich mit
sage und schreibe sechs Internationalen Meistern und neun FIDE-Meistern. Das
kann sich sehen lassen! Bis jetzt habe ich eine Leistung von 2117 gespielt, was
eine Verbesserung um 17 ELO-Punkte bedeutet. Meine aktuelle Wertung, bezogen
auf den Spezialpreis lautet also 240. (2117 abzüglich 1877)
Freitag, 12.03.10:
Noch vor dem Frühstück informiere ich mich über meinen heutigen Gegner. Es ist
der dritte Kroate. Zu meiner Überraschung ist es der erste Spieler mit einer
Zahl unter 2000. Jetzt darf ich aber keineswegs übermütig werden, denn ich kann
bekanntlich gegen jeden ganz schnell verlieren. Außerdem hat er immerhin knapp
100 Punkte mehr als ich! Ich überprüfe nochmals einige französische
Nebenvarianten und bringe mein Tagebuch auf den aktuellen Stand. Die
Vorbereitung auf Bozo Zrilic (1968) hat sich in fünf
Minuten erledigt. Es gibt von ihm lediglich zwei Schwarzpartien auf der
Database. Wenigstens weiß ich nun, dass er Sizilianisch spielt. Gehaltvollere
Informationen spuckt die Kiste leider nicht aus.
Das Wetter hat sich übrigens gemausert. Die Schneeschicht ist komplett weggeschmolzen,
und sogar die Sonne zeigt sich etwas. Gute Aussichten also auf den morgigen
Ausflugstag. Ich schaue mir noch 25 bis 30 Sizilianisch Partien von der
Database an (ECO-Code B60-B69), und dann ist der Vormittag auch schon wieder
vorbei. Heute nehme ich die Kamera mit, um ein paar Außen- und Innenaufnahmen
von der Halle in Rijeka zu machen.
Von einer der Hallenassistentinnen erfahre ich, dass die zunächst angebotenen
Busausflüge für den morgigen Ruhetag mangels Interesse abgesagt wurden. Von
weit mehr als fünfhundert Teilnehmern wollte sich kein einziger dafür anmelden!
Schachspieler/Innen können doch sehr eindimensional sein. Meine Aufnahmen
beende ich um 15:24, um rechtzeitig am Brett zu sitzen. Die Wege in der
riesigen Halle sind weit.
Ausgerechnet heute gibt es eine rund fünfminütige Verspätung. Es erfolgt die
Ansage, dass einer der Busse knapp dran ist und einige Minuten Verspätung hat.
Zudem wird von dem Problemfall des Vortages berichtet, weswegen die Auslosung
für die siebte Runde so spät erfolgte.
Manche der Uhren springen bereits nach dem 39. Zug auf die zusätzlichen dreißig
Minuten um und nicht erst nach dem vierzigsten, wie es sein müsste. Dies führte
in einer Damenpartie zu Konfusionen. Eine der Spielerinnen führte deshalb
versehentlich nur 39 Züge aus, wodurch sie vom Schiedsgericht genullt wurde,
eine Entscheidung, die man nur schwer nachvollziehen kann. Warum wird man
genullt, wenn die Technik streikt?
In der Ansage werden alle Teilnehmer dazu aufgefordert, sofort die Uhr
anzuhalten und einen Schiedsrichter herbeizurufen, falls die Uhr wiederum nach
dem 39. Zug umspringt. All dies wird dreisprachig verkündet, auf Englisch,
serbokroatisch und russisch.
Ich sitze einem älteren, rundlichen Kroaten gegenüber, der weder ein Wort
Englisch noch deutsch spricht. Die Uhren werden wie üblich von den
Schiedsrichtern in Gang gesetzt, aber plötzlich kommt Unruhe auf. Anatoly Karpov ist zu Besuch und schreitet an den Tischen entlang,
Richtung Hallenausgang. Dicht um ihn herum springen mehrere Fotografen und
kämpfen um jeden Quadratzentimeter, um die beste Perspektive für ihre Fotos zu
ergattern!
Der Spuk ist schnell vorüber. Für mich ist es nicht eine so große Sensation.
Immerhin habe ich Karpov auf einer Pressekonferenz
während der Schacholympiade in Dresden 2008 zu seinen Ambitionen als
FIDE-Präsident befragt (ich berichtete), und im Herbst 1989 saß ich mit ihm und
anderen Großmeistern in den Schweizer Bergen bei San Bernardino auf einer
Lichtung beim Picknick!
Zurück zur siebten Runde: Es entsteht ein Rossolimo-Sizilianer,
den ich in dieser Form noch nie auf dem Brett hatte. Schon lange wollte ich es
einmal mit der Bauernstruktur d3, e4 und f4 spielen, wobei der Königsturm nach
der Rochade auf f1 verbleibt. Wie sich später bei der nächtlichen Analyse
herausstellt, mache ich ungewöhnlich viele Züge, die auch der Computer
vorschlägt, das heißt, ich behandle die Stellung richtig. Für diese korrekte
Einschätzung brauche ich aber viel Zeit, worauf der Zeitdruck dramatisch
anwächst. Nur ein Leichtfigurenpaar ist getauscht. und ich muss ziehen.
Die Stellung ist noch im Gleichgewicht, als ich mit der Dame auf ein Feld
tappe, das sich als tödlich erweist. Ein Blitz aus heiterem Himmel schlägt ein,
und drei Züge später bin ich matt! So drastisch wurde ich selten überfallen!
Ich habe noch jede Menge Energie und Konzentrationsfähigkeit gespeichert, die
ich nun nicht mehr einsetzen kann. Stumm und unter Schock unterschreibe ich die
Partieformulare.
Die Analyse mit meinem Gegner ist auf Grund der Sprachprobleme so ergebnislos
wie selten. Ab und zu brabbelt jeder etwas in seiner Sprache dahin, ohne dass
der andere es versteht. Ein paar Eventualwendungen kommen zwar aufs Brett, aber
die bringen auch keine Erleuchtung.
Da es trotz „Analyse“ erst kurz vor 19:00 ist, beschließe ich, noch ein wenig
Turnieratmosphäre zu genießen und schaue mir einige der noch laufenden
Großmeisterpartien an. So wirklich Prickelndes ist leider nicht dabei. Alle
zerren irgendwelche zähen Turm- oder Leichtfigurenendspiele übers Brett.
Immerhin kann ich einmal mehr beobachten, wie ruhig, fast kalt die Profis trotz
äußerst knapper Zeit spielen. Einige haben nur noch drei bis fünf Minuten auf
der Uhr, und pro Zug kommen lediglich die dreißig Sekunden Zeitgutschrift
hinzu. Unter diesen Bedingungen ist es ein Wunder, wie gut sie die schweren
Endspiele behandeln.
Kurz vor der Rückfahrt ergattere ich noch ein Autogramm von Ivan Sokolov (BIH, 2638), das er nur allzu gern gibt, da er
soeben gegen Fabiano Caruana (ITA, 2680) gewonnen
hat. Er teilt mir mit, dass er daheim ebenfalls über eine sehr wertvolle
Autogrammsammlung verfügt. Dann bin ich mit meiner Liebe für Unterschriften
doch nicht ganz allein! Sokolov ist übrigens vor
Kurzem zu seinem Heimatverband Bosnien-Herzegowina zurück gekehrt. Einige Jahre
lang war er für die Niederlande an den Start gegangen.
Als Nachtrag zum Thema Autogramme füge ich an dieser Stelle eine Anekdote ein,
die sich im Januar beim Gibraltar Masters zugetragen hat. Der Veranstalter
hatte den in Paris lebenden Ex-Weltmeister Boris Spasskij
ins Hotel Caleta nach Gibraltar eingeladen. Anfangs
dachte ich, er würde einen der russischen Großmeister coachen.
Dem war aber nicht so. Spasskij ließ sich einfach nur
den Bauch pinseln, plauderte in der Lounge und schlich während der Runden mit
seinen unsagbar spießigen kamelhaarfarbenen
Hausschuhen um die Bretter. Auch bei den Patzern im Keller ließ er sich
regelmäßig blicken.
Als der silberlockige Pantoffelheld mal wieder in der Nähe der Bar mit einem
Russen Smalltalk hielt, wollte ich die Gelegenheit nutzen, ihm ein Autogramm
abzuringen, doch zu meiner großen Überraschung verweigerte er mir dies! Er
meinte nur, dass ein Bild mit ihm jederzeit möglich sei, aber keine
Unterschrift. Im ersten Moment war ich perplex, aber ich fand sofort die
Sprache wieder und fragte nach: „Gibt es dafür einen bestimmten Grund?“ Seine
Antwort, während er freundlich lächelte, lautete: „I don’t
like to give
you any credit!”
Eine klarere Ansage gibt es nicht. Ich zog mich zurück und dachte: „Du kannst
mich damit überhaupt nicht treffen, denn ich habe von Dir bereits 1979 beim
GM-Turnier im Hotel Hilton-Tucherpark in München ein
Autogramm ergattert - ÄTSCH! Damals hatte ich offenbar noch mehr Kredit! Weil
die Gelegenheit günstig schien, wollte ich ein aktuelles Autogramm in einem
repräsentativeren Buch haben. Aber ich kann auch mit seiner Unterschrift von
1979 sehr gut leben!
Ich nehme den 20:30 Bus zurück nach Opatija und muss
stehen. Das passt zum heutigen Tag. Auf der Fahrt entscheide ich, abends doch
nicht zu der Spielerparty zu gehen. Die geht erst um 22:00 los, und außerdem
stünde mir ein mindestens zwanzigminütiger Fußmarsch in der Dunkelheit bevor.
Und mitten in der Nacht müsste ich wieder zurück. Zudem mag ich es nicht, mir
sinnlos die Nacht um die Ohren zu schlagen. Ich bin überhaupt nicht in der
Stimmung, mir das anzutun. Also verbleibt nur die unangenehme Pflicht, mich mit
meiner Verlustpartie zu beschäftigen. Wenn ich wenigstens die Anzahl der groben
Fehler reduzieren könnte, die sofort die Partie kosten, wäre schon einiges
erreicht. 2 aus 7.
Samstag, 13.03.10:
Morgens um kurz vor sechs Uhr trudeln die restlichen Nachtschwärmer im Hotel
ein und lärmen ungehemmt im Gang vor meinem Zimmer. Lautes russisches
Stimmengewirr, vermischt mit Gelächter, dringt an meine Lauscher. Zum Glück ist
der Spuk nach einigen Minuten vorbei, aber nun bin ich wach. Ich falle zwar
noch mal ins Land der Träume zurück, aber so richtig erholsam ist das nicht
mehr. Zum Glück ist heute keine Runde.
Als ich vom Frühstück zurück aufs Zimmer will, läuft mir GM Henrik Danielsen über den Weg. Ich leiste ihm Gesellschaft, und da
er nach der Nahrungsaufnahme noch mehr über mich erfahren will, lädt er mich
auf eine weitere Portion Tee in der Hotellounge ein. Um 10:30 werden wir
nämlich freundlich des Frühstückssaals verwiesen! Erst gegen 12:00 trennen sich
unsere Wege. Er muss morgen gegen einen der zahllosen starken Russen mit über
2600 ELO antreten, und darauf will er sich nachmittags vorbereiten.
Mein Gegner in der 8. Runde trägt den typisch österreichischen Namen Boban Bozinovic! Wie ich hörte, ist er vor mehr als zwanzig
Jahren in die Alpenrepublik ausgewandert. Er hat eine ELO von 2086. Ich sehe
mir seine bisherigen Gegner an und konstatiere, dass ich bei gutem Spiel
durchaus eine Chance habe. Es dauert eine Weile, bis ich herausfinde, dass es
in der Datenbank zwei Spieler mit diesem Namen gibt! Der eine spielt 1. d4, der
andere 1. e4. Ich orientiere mich an den ELO-Zahlen und glaube, dass „meiner“
1. e4 zieht. Leider gibt es von ihm nur wenige Französisch-Partien mit Weiß und
nur eine mit einer Variante, die ich spiele.
Beim Schreiben des Tagebuches sehe ich auf die Uhr und stelle mit Schrecken
fest, dass es schon nach 14:00 ist. Ich habe vergessen, zum Mittagessen zu
gehen! Sofort stürze ich aus dem Zimmer Richtung Speisesaal ins Erdgeschoss und
stelle erfreut fest: Es ist noch Suppe da! Und noch viel mehr….
Gestärkt pflanze ich mich an einen der Internet-PCs im Hotel und frage mein
E-Mail-Postfach ab. Es gibt Absagen bezüglich des wichtigen Mannschaftskampfes
am 21.3. in Deggendorf. Derlei Hiobsbotschaften bin ich als Mannschaftsführer
fast schon gewohnt. Ich beantworte die meisten der erhaltenen E-Mails, wofür
ich fast zwei Stunden brauche. Im Zimmer setze ich meine schachlichen
Aktivitäten mit großer Begeisterung fort. Vielleicht sollte ich mir den Wecker
stellen, damit ich das Abendessen nicht vergesse! Um 23:45 sind alle
Schachmagazine aufgearbeitet, eine weitere DVD angeschaut und das zweite
Kapitel im Andersson Strategiebuch gelesen. Dieser Tagesablauf erinnert mich an
einen Schachbuchtitel, der da lautet: „Ein Leben für das Schach!“
Sonntag, 14.03.2010:
Auf der offiziellen Homepage des Turniers www.eurorijeka2010.com lese ich, dass
Anatoli Karpov am Freitag anlässlich seines Besuches
eine äußerst positive Nachricht verbreitet hat. Nun will er doch für das Amt
des FIDE-Präsidenten kandidieren! Mehrere Jahre lang konnte er sich zu diesem
Schritt nicht entschließen. Ein Mann mit seiner Reputation und seiner
Bekanntheit rund um den Globus würde der FIDE mehr als gut tun. Dann würden
endlich Leute wie der bisherige Präsident Kirsan Iljumshinov, der Grieche Makropoulos und weitere dubiose
Figuren aus dem inneren Zirkel der FIDE entfernt und durch seriöse Personen
ersetzt werden.
Eine der dringendsten Aufgaben wäre es für Karpov,
das miserable Image der FIDE aufzupolieren. Außerdem würde er dafür sorgen,
dass endlich wieder ein verlässlicher WM-Zyklus mit Kandidatenmatches
eingeführt würde, so wie es Jahrzehnte lang zur Zufriedenheit aller gewesen
ist.
Im Zimmer setze ich meine Schacharbeit fort. Auf dem Trainingsplan steht Jacob Aagaard: „Verbessern Sie Ihr Schach!“ Der gebürtige Däne
ist nicht nur meiner Meinung nach einer der besten Schachbuchautoren überhaupt.
Studiert man seine Bücher, profitiert man garantiert davon.
Zum Glück ist heute wieder eine Runde. Ich habe fast schon Entzugserscheinungen
und bin so richtig gierig nach dem Punkt! Ich strotze vor Kraft und verzichte
mit Leichtigkeit auf das Ruhen nach dem Essen.
Heute ist die Autogrammausbeute wieder etwas höher: Evgeni Vorobiov
(RUS, 2616), Nidjat Mamedov
(AZE, 2623), Pavel Tregubov (RUS, 2625), Viktor Laznicka (CZE, 2659) und das ELO-Schwergewicht Viktor Bologan (BIH, 2684) tragen sich bereitwillig in mein Buch
ein. Meine gesamte Sammlung hat mittlerweile einen beachtlichen Umfang von weit
über 150 Großmeistern erreicht und stellt einen hohen ideellen Wert dar.
Darunter finden sich die Ex-Weltmeister Mikhail Botwinnik,
Boris Spasskij (heute FRA, damals URS), Garri Kasparov und Anatoli Karpov, der
amtierende Weltmeister aus Indien, Viswanathan Anand,
der zweifache Vize-Weltmeister Viktor Korchnoi (heute
CH, bis 1976 URS), Magnus Carlsen (NOR), der Weltranglistenerste und wohl
künftige Weltmeister, Wassili Ivanchuk (UKR), Weselin Topalov (BUL), Levon Aronian (ARM), Teimur Radjabov (AZE), Peter Leko (HUN),
Michael Adams (GB), Vugar Gashimov
(AZE), Ulf Andersson (SWE), Lajos Portisch (HUN) und
viele andere mehr.
GM Nigel Short, der seit vielen Jahren in
Griechenland lebt, ist anlässlich einer Sonderversammlung der Europäischen
Schachunion direkt aus Hamburg angereist, wo er bei der Firma Chessbase eine DVD aufgenommen hat. In Rijeka tritt er als
Delegierter für den englischen Schachverband auf. Dabei hat er bestimmt keinen
Kontakt zu seinem Intimfeind Ivan Cheparinov (BUL)
gesucht, der ihm vor etwa einem Jahr bei einem Turnier den Handschlag
verweigert hat!
Auch bei der Europäischen Schachunion steht ein Führungswechsel bevor. Der
bisherige Präsident, der russische GM Boris Kutin,
soll aus Altersgründen ersetzt werden. Bekannt ist, dass der türkische
Verbandspräsident Yasici als Nachfolgekandidat
antreten will. Völlig überraschend ist jedoch, dass der Manager von GM Weselin Topalov, Danailov, ebenfalls nach diesem Posten schielt!
Bei einer ECU-Sitzung im Frühsommer 2009 wollte der Türke den Ausgang der
vorigen Europameisterschaft annullieren lassen, weil sein Land angeblich bei
der Vergabe von Turnieren nicht angemessen genug berücksichtigt worden sei! Und
Danailovs Klogeschichten beim WM-Match zwischen Topalov und Kramnik in Elista
2006 sind wohl bei uns allen noch in schlechtester Erinnerung. Demokratische
Zustände kann man bei diesen Leuten garantiert ausschließen. Das sieht wieder
einmal nach der Wahl zwischen Pest und Cholera aus.
Mein korpulenter Gegner hat fast drohend drei
Plastikbecher mit Wasser in Reih und Glied aufgebaut. Er scheint mir damit
sagen zu wollen: „Im Wasser trinken bin ich Dir überlegen!“ Die Eröffnung
behandelt er schwach, was ich leider nur zum Teil ausnutze. Wir spielen beide
langsam, was unweigerlich zu einer weiteren Zeitnotschlacht führt. Mehrfach
lasse ich ihn entwischen, gerate aber andererseits nie in eine Verluststellung.
Nach knapp vier Stunden und erheblicher Vereinfachung führe ich eine
Zugwiederholung aus, der er nicht ausweichen kann – Remis. Ich weiß nicht
recht, ob ich mich freuen oder ärgern soll. Das wird die Analyse zeigen, der er
sich aber leider nicht stellen will. Das ist schade, denn erst das bringt uns schachlich weiter.
Dafür treffe ich GM Henrik Danielsen, der mir drei
seiner Partien zeigt, die er bislang in Rijeka gespielt hat, inklusive der
heutigen Gewinnpartie mit Schwarz gegen Sergei Azarov
(AZE, 2621)! So gut es geht, versuche ich mich zu beteiligen, was angesichts
seiner Vorführgeschwindigkeit recht schwer fällt. Dennoch sauge ich jede seiner
Bemerkungen und jeden Tipp wie Atemluft auf. Hätte ich tagtäglich ein solches
Training, wäre meine Wertungszahl garantiert um 200 Punkte höher!
Die abendliche Analyse zieht sich wieder bis kurz vor Mitternacht und bringt
die Erkenntnis, dass ich mit meinem 10. Zug seine Vernichtung schon hätte
einleiten können. Auch später hätte es mehrere Male stärkere Fortsetzungen
gegeben. An meinem Killerinstinkt muss ich noch arbeiten. 2,5 aus 9.
Montag, 15.03.10:
Irgendwelche fremdländischen Vollidioten unterhielten sich in der Nacht ab
01:30 laut und völlig ungeniert auf dem Gang im 6. Stock und rissen mich aus
dem Schlaf. Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis ich wieder zur Ruhe kam und
meinen Schlaf wie gewohnt fortsetzen konnte. Deshalb öffne ich erst gegen 08:30
die Augen und schrecke wegen der fortgeschrittenen Uhrzeit hoch. Nach dem
Frühstück habe ich E-Mailkontakt mit Alfred und kann insofern aufatmen, als die
Mannschaft für Deggendorf am kommenden Sonntag steht. Über das Ergebnis breite
ich lieber den Mantel des Schweigens aus.
Über die Auslosung bin ich „not amused“. Ich habe
schon wieder Schwarz und werde noch dazu heruntergelost.
Mein Gegner ist Deutscher (ELO 2114) und hat lediglich zwei Punkte auf seinem
Konto. Eine Partie hat er kampflos verloren. Wie ich später von ihm erfahre,
hat er die Runde verschlafen! Der letzte Bus war weg, und für ein Taxi war es
auch schon zu spät. Auf der Database sind ausreichend Partien von ihm
vorhanden. Er ist Angriffsspieler und hat nicht die geringsten Skrupel vor
Bauernopfern. Aber ich weiß schon, wie ich ihn ausbremsen werde! Ob es für
etwas Zählbares reicht, wird sich zeigen.
Im Eingangsbereich der Halle macht Sarajevo Werbung für sein 40. Open vom
05.-14.05.2010. Der Preisfonds beträgt beachtliche 109.800,- Euro und ist damit
vergleichbar mit dem von Gibraltar (112.500,- Pfund). Wie gerne würde ich auch
hier mitspielen, aber da gibt es ja leider Gottes diese materiellen Zwänge. Für
Safet nehme ich ein Prospektblatt mit.
Unterschriften gibt’s heute von Bojan Vuckovic, (2630), dem überraschend stark
aufspielenden Serben, Juri Drozdovski (RUS, 2627), Mikhail
Kobalia (RUS, 2637), Sanan Sjugirov (RUS, 2602), dem eine große Zukunft vorausgesagt
wird, Igor Lysyi (RUS, 2615) und Zahar
Efimenko (UKR, 2640).
Mein Gegner aus Hamburg (2114) spielt genauso wie von mir erwartet. Er stellt
mir insgesamt vier (!) Bauern hin, von denen ich drei bereitwillig einschnaufe. Kurz vor der Zeitkontrolle stehe ich haushoch
auf Gewinn. Ich verwende meine restlichen paar Minuten für die Suche nach einem
Matt mit Dame und Turm und gehe dafür das Risiko ein, mich selbst auf matt
stellen zu lassen, anstatt sichere, risikolose Züge zu machen. Trotz
krampfhafter Suche finde ich keinen direkten Gewinnweg. Um das eigene Matt zu
decken, habe ich gerade noch eine Lösung parat, die allerdings in ein
Dauerschach mündet, das er mir gibt. Rybka zeigt mir
später 7,49 Punkte Vorteil an. Es ist zum Mäusemelken!
Dennoch habe ich nach neun absolvierten Runden mein anvisiertes Ziel von drei
Punkten bereits erreicht. In den verbleibenden zwei Runden habe ich somit die
Chance, dieses Ziel noch zu übertreffen. Die abendliche Auslosung weist mir den
Kroaten Ivo Kinez (2138) zu. Er hat Punkteteilungen
gegen zwei Internationale Meister erreicht. Das wird wieder schwer…
Nach neun von elf Runden führt einer der Russen aus der jungen Generation, Ian Nepomniachtchi (2656). Heute stößt der 20-jährige den
bislang Führenden Baadur Jobava
(GEO, 2695) vom Thron, indem er ihn im direkten Vergleich mit Weiß besiegt. Als
Einziger hat er 7,5 Punkte erreicht. Dahinter folgen sieben Spieler mit je 7
Punkten: Zahar Efimenko
(UKR, 2630), Baadur Jobava
(GEO, 2695), Ivan Sokolov (BIH, 2638), Rauf Mamedov (AZE, 2639), Artyom Timofeev (RUS, 2655), Denis Khismatullin
(RUS, 2657) und Vladimir Akopian, der zweifache
Olympiasieger mit Armenien (2680).
In dieser Liste ist Rauf Mamedov aus Aserbeidschan
eine echte Überraschung. Ihn konnte man nicht so weit oben erwarten.
Mitfavoriten wie die Buchautoren Andrei Volokitin
(UKR, 2687) oder Viktor Bologan (MDA, 2680) sind mit
fast kläglichen 5 aus 9 längst abgeschlagen.
IM Kiprian Berbatov (2481),
ein 14-jähriger Jungspund aus Bulgarien, macht Furore. Der „dritte Cousin“ (so
drückte er sich mir gegenüber aus) des ehemaligen Leverkuseners und jetzigen
Stürmers von Manchester United, Dimitar Berbatov, hat
nach mäßigem Start gut ins Turnier gefunden und mit vier Siegen hintereinander
nachdrücklich auf sich aufmerksam gemacht. Wächst hier ein neuer Topalov heran? Angesichts solcher Talente frage ich mich,
warum es nicht auch in Deutschland gelingt, wenigstens ab und zu einen
derartigen Nachwuchsstar herauszubringen. Fast nirgendwo gibt es so gute
Voraussetzungen wie bei uns. Man müsste den Talenten „nur“ professionelle
Trainer zur Seite stellen, aber leider ist das schon zu viel verlangt.
Österreichs Spitzenmann Markus Ragger (2570) hat seinen
Bundestrainer als Betreuer an der Seite. Es ist kein Geringerer als der
ehemalige Weltklassespieler, der ungarische GM Zoltan Ribli,
der verantwortlich für die Herrennationalmannschaft ist. Er stellt seinen
Schützling auf jeden Gegner perfekt ein. Das nenne ich professionelle
Trainingsarbeit. Dabei wurde Schach in Österreich erst im vorigen Jahr
offiziell als Sport anerkannt! Mir ist nicht bekannt, dass der deutsche
Bundestrainer Uwe Bönsch oder sonst ein
verantwortlicher Trainer des DSB für einen der deutschen Großmeister in Rijeka
anwesend ist.
Dienstag, 16.03.2010:
Im Hotelfoyer hängt eine Liste mit insgesamt 32 Teilnehmern aus, die entweder
noch kein Startgeld (130,- Euro) oder die allgemeine Organisationsgebühr (70,-
Euro), unter anderem für die Bustransfers, bezahlt haben. Die Organisatoren
hätten hier meines Erachtens strikter vorgehen sollen. Wer vor Turnierbeginn
nicht bezahlt, darf auch nicht mitspielen. Ganz einfach! Jetzt müssen sie dem
Geld hinterher laufen. Zum Glück ist das nicht mein Problem.
Das Tagebuch wird auf den neuesten Stand gebracht. Danach widme ich mich meinem
Gegner. Ich studiere etwa dreißig Partien mit einer bestimmten Variante und
präge mir die diversen Pläne mit Weiß ein. Dieses System wird von vielen
Topgroßmeistern gespielt, und heute will ich das erstmals anwenden. Irgendwann
muss ich ja mal etwas Neues versuchen.
Bei der Ankunft am Brett finde ich wie alle anderen auch ein Prospektblatt mit
der Ausschreibung der EM 2011 vor. Diese wird in Aix
les Bains in Frankreich stattfinden. Laut
Beschreibung liegt der Ort eingebettet zwischen Bergen und Seen in der Provinz
Rhone-Alpes. Nach meinen hiesigen Erfahrungen ist es allemal reizvoll, auch bei
der nächsten EM wieder mit von der Partie zu sein.
Ivo Kinez, mein heutiger kroatischer Gegner, sitzt
bereits kurz nach 15:00 am Brett und begrüßt mich freundlich. Als Vertreter der
älteren Generation – ich schätze ihn auf etwa 55 – spricht er kein Englisch.
Ohnehin mache ich mich auf Autogrammjagd. Es unterschreiben Arman Pashikian (ARM, 2652), Bartlomiej
Macieja (POL, 2625), Vadim Zviaginsev
(RUS, 2643), Evgeniy Najer (RUS, 2667) sowie Jiri Stocek, der junge Tscheche, der ein Bombenturnier spielt
und nach der EM definitiv zum Club der 2600er gehören wird.
Um 15:34, als ich mich wie alle anderen in der frühen Eröffnungsphase befinde,
klingelt hinter meinem Rücken ein Handy! Der Weißspieler an Brett 191 ist der
Unglücksrabe. Nach geschätzten 6,3 Sekunden eilt der Schiedsrichter herbei und
beendet pflichtgemäß das Duell der beiden Kroaten. Der „Sieger“, ein
Jugendlicher, freut sich sogar noch darüber! Das Schlimmste aus meiner Sicht
ist, dass diese „Partie“ auch noch gewertet wird. Schließlich wurden einige
Züge gespielt! Hoffentlich wird Karpov auch mit
dieser Unsinnsregel aufräumen, wenn er denn ans Ruder
kommt.
An meinem Brett kommt die vorbereitete Variante dran, was mir Sicherheit gibt
und viel Zeit spart. Durch zwei Ungenauigkeiten im 15. und 16. Zug gerate ich
etwas in Nachteil. Die Stellung wird hoch taktisch. Viel Rechenarbeit ist
erforderlich. Ich gebe mein Bestes, aber das reicht nicht. Er spielt einfach
stärker, und die 261 ELO-Punkte, die er mehr hat, machen sich bemerkbar. Um es
deutlich auszudrücken, ich habe überhaupt keine Chance und bin von einer
eventuellen Punkteteilung meilenweit entfernt. Wenigstens spielt sich alles
ganz ohne Aufregung ab. Zeitnot ist heute kein Thema. Nach genau 40 Zügen
strecke ich die Waffen. Er will ebenfalls nicht analysieren, weil er seinem
Freund zuschauen muss, der noch spielt. Schade. So kiebitze ich noch bei den
laufenden Großmeisterpartien und fahre mit dem 20:00 Bus sitzend gen Opatija.
Nach dem Essen erfolgt wie üblich die ausführliche Partienachbereitung. Meine
Vermutungen werden vom allwissenden Computer bestätigt. Da gab es nichts zu
holen. Gegen 23:00 strebe ich nochmals vom 6. Stock hinunter in die Hotelhalle,
um die Auslosung für die letzte Runde zu sehen. Ich werde gegen einen
ukrainischen IM spielen, der allerdings nur eine Zahl von 2124 aufzuweisen hat.
Ich vermute, dass es sich um einen älteren Zeitgenossen handelt, der seine
beste Zeit längst hinter sich hat. Eine andere Erklärung für diesen
außergewöhnlichen Umstand habe ich nicht.
Leider habe ich Schwarz, aber wenn ich mich noch einmal richtig reinhänge und
am oberen Limit spiele, kann ich ein gutes Ergebnis schaffen. Ich stelle fest,
dass er mit einer einzigen, kümmerlichen Partie auf der Database vertreten ist.
Wenigstens gibt mir diese eine Partie Aufschluss darüber, welche Eröffnung
vermutlich aufs Brett kommen wird. 3 aus 10.
Mittwoch, 17.03.2010:
Vor dem Frühstück erfolgt ein kurzer Blick ins Internet. Schon einige Tage habe
ich mich nicht mehr auf der Chessbase-Seite auf dem
Laufenden gehalten. Carlsen mischt die GM-Konkurrenz beim berühmten Amber
Turnier in Nizza auf, und der 18-jährige Hamburger Niklas Huschenbeth
ist überraschend Deutscher Meister geworden. Dies hat er hauptsächlich deswegen
geschafft, weil er im Laufe des Turniers sechs Remisangebote
seiner Gegner abgelehnt und stattdessen weitergespielt hat. In mindestens einem
Fall tat er dies trotz eines Minusbauern im Endspiel! Das zeigt, dass sich
Kampfgeist lohnt. Er trotzte erfolgreich der unsäglichen Remisschieberei!
Vormittags sehe ich die Eröffnung an, die heute Nachmittag hoffentlich drankommen
wird. Außerdem studiere ich einige Varianten von den Chessbase-Magazin
DVDs, die ich dabei habe. Es gibt unendlich viel hochinteressantes Material!
In der Halle erstehe ich meine beiden letzten Autogramme. Vor allem auf die
Unterschrift von Alexander Motylev (RUS, 2705) war
ich spitz. Damit habe ich sämtliche ELO Hochkaräter dieses Turniers in meinen
Büchern verewigt! Als Dreingabe signiert noch der kleine Maxim Rotshtein (ISR, 2609), ein ehemaliger Jugend-Weltmeister.
Im Vorraum treffe ich den Turnierorganisator Laszlo Nagy, der aus Budapest
gekommen ist, um für seine legendären „First Saturday
Turniere“ zu werben. Im September könnte es endlich so weit sein. So ein
Rundenturnier hat schon seinen Reiz!
Ein letztes Mal geht es an die Bretter. Ein letztes Mal vernehme ich die Stimme
des Hauptschiedsrichters, ein letztes Mal hole ich meine „Schachbrille“ samt
Turnierkugelschreiber hervor und sehe den glatzköpfigen, schmächtigen
Schiedsrichter herbeieilen, um die 10 Uhren seines Sektors in Gang zu setzen.
An all diese Rituale habe ich mich inzwischen gewöhnt.
Wie erwartet, ist IM Vladimir Chubar aus der Ukraine
ein älteres Semester. Die 60 dürfte er bereits überschritten haben. Meine
Vorbereitung läuft ins Leere. Es entsteht etwas Undefinierbares, ein Damenbauernspiel,
wie mir das Programm später verrät. Ich tausche alles weg, was sich mir in den
Weg stellt und erreiche eine sehr ausgeglichene Stellung. Auf dem Brett
verbleiben lediglich zwei Türme und eine Leichtfigur sowie sieben Bauern auf
jeder Seite. Ich strebe natürlich nach einer Punkteteilung, was mir aber
misslingt.
Im Verlaufe dieses Endspiels merke ich mehr und mehr, dass er eben doch ein
Internationaler Meister ist, niedrige ELO-Zahl hin oder her. Einmal im Leben
hatte er eben 2400 Punkte auf seinem Konto, und das erfahre ich jetzt am
eigenen Leib. Aus dem „Nichts“ zaubert er innerhalb von 18 Zügen eine glatte
Gewinnstellung! Dabei begehe ich lediglich an zwei Stellen kleine
Ungenauigkeiten, keine groben Fehler. Allein das genügt schon.
Ich hadere mit der Auslosung. Schon in Gibraltar hatte ich kein Glück damit,
und auch hier habe ich einerseits sechsmal schwarz, und andererseits bekomme
ich in der letzten Runde noch einen IM serviert. Nun sind es doch nur drei
Punkte aus elf Partien geworden. Nachdem ich diese drei Zähler bereits nach
neun Runden erreicht habe, bin ich jetzt natürlich etwas griesgrämig. Ein
halbes Pünktchen aus den letzten beiden Runden hätte es schon noch sein dürfen.
Auf der anderen Seite habe ich immerhin in fünf Partien etwas Zählbares gegen
deutlich Stärkere herausgepresst und habe wieder zu meiner alten Spielstärke
zurückgefunden. Mehr ist auf meinem Niveau kaum zu erwarten.
Ich kiebitze bei GM Alexander Delchev und erlebe mit,
wie er gegen den Tschechen Vlastimil Babula in
hochgradiger Zeitnot eine gewinnverdächtigte Stellung verdirbt. Er verrechnet
sich, und verliert auf einfache Weise einen Läufer, worauf er sofort aufgibt.
Es ist ein gewisser Trost, wenn man miterlebt, dass es auch gestandenen
Großmeistern so gehen kann wie uns Amateuren.
In der letzten Runde wird noch mal hart gekämpft, denn es geht um viel Geld und
um die Weltcup-Qualifikation. An den drei Spitzenbrettern gewinnen die
Weißspieler, aber auch die relativ wenigen Remispartien
werden voll ausgespielt. So möchte man das immer sehen!
Im Hotelzimmer gebe ich die Partie ein. Die Analyse ist dank des früh
entstandenen Endspiels relativ schnell erledigt. Ich aktualisiere das Tagebuch
und beende den letzten Spieltag gegen 23:20. 3 aus 11.
Donnerstag, 18.03.2010:
Seinerzeit, bei der Durchsicht des Spielplans habe ich nicht richtig
aufgepasst. Sonst hätte ich nämlich die Heimreise auf den heutigen Tag gelegt.
Dann hätte ich zwar die abendliche Siegerehrung verpasst, aber für mich gibt’s
sowieso nichts zu holen. Auf diese Weise habe ich noch einen ganzen Tag zum
Arbeiten zur Verfügung. Schachmaterial ist genügend vorhanden, Lust sowieso!
Heute finden im Hotel Milenij, einem 5-Sterne Haus in
Opatija, in dem ebenfalls viele Schachspieler
untergebracht sind, die Tiebreaks statt, um die insgesamt 22 Spieler für die
Teilnahmeberechtigung beim nächsten Weltcup zu ermitteln. Der 23. Platz ist
bereits vergeben und zwar an den neuen Europameister Ian Nepomniatchchi
(20) aus Russland! Als Einziger hat er das sagenhafte Ergebnis von 9 aus 11
erreicht, und ist damit alleiniger Sieger! Gestern hat er noch den
Weltklassemann Vladimir Akopian (ARM, 2680) mit Weiß
weggeputzt.
Zweiter wurde der lange Führende Baadur Jobava aus Georgien mit 8,5 Punkten, Dritter Artyom Timofeev (RUS), ebenfalls
8,5. Dahinter folgen sieben Spieler mit 8 Zählern. Damit ist man ebenfalls
sicher für den Weltcup qualifiziert. Nachsitzen im Hotel Milenij
müssen die „Siebeneinhalber“. Ich werde diesen
Schnellpartien nicht beiwohnen, sondern nutze die Zeit lieber für das eigene
Training.
Nun zu meinem Ergebnis: Als Drittbester der Teilnehmer mit 3 Punkten belege ich
den ehrenhaften 380. Platz, fünf Ränge vor meiner Setzlistenplatzierung. Gegen
einen Gegnerschnitt von 2147 habe ich eine Leistung
von 1996 erzielt und mich um 15 ELO-Punkte verbessert. Rein von diesen
statistischen Zahlen her bin ich sehr zufrieden, aber zum perfekten Glück hätte
es gestern schon noch mal ein Remis sein müssen.
Und die übrigen Deutschen? Positiv überrascht und sich nennenswert verbessert
hat sich ein einziger und zwar der IM Matthias Womacka
(2452). Er erzielte zwar nur 50%, verbesserte sich damit aber um 18 ELO-Punkte.
Der Spitzenspieler der Nationalmannschaft, Arkadij Naiditsch,
schaffte 7 Punkte und Rang 41. Seine ELO-Zahl bleibt gleich. Enttäuschend
schnitten Jan Gustafsson (6,0 Punkte, 132. Platz, -11 ELO), Georg Meier (5,5,
193., -13) sowie Daniel Friedman (5,0, 247., -16) ab. GM Rainer Buhmann
erzielte wie Naiditsch 7 Punkte, wurde 67.,
verschlechterte sich aber trotzdem um 5 ELO Punkte.
Alle Ergebnisse sind auf der wirklich sehr empfehlenswerten Seite www.chess-results.com
nachzulesen. Freunde der Statistik sind hier in ihrem Element. Hier gibt es
Tabellen und Ranglisten nach den verschiedensten Kriterien.
Im Laufe des Tages lese ich zwei weitere Kapitel im Andersson Strategiebuch.
Das ist schwere Kost! Außerdem arbeite ich bislang ungelesene Schachhefte auf.
Im Grunde ist es das Beste, was ich hier tun kann, denn die Stadt Opatija ist auch nach dem leichten Anstieg der Temperaturen
völlig tot. Ich denke, das Leben beginnt hier erst so richtig nach Ostern, wenn
die Zahl der Besucher merklich ansteigt. Dennoch: die Organisatoren haben hier
wirklich Großartiges geleistet. Was hier von den Kroaten auf die Beine gestellt
wurde, verdient die uneingeschränkte Anerkennung aller und gehört zweifellos in
die Kategorie Weltklasse!
Um 19:15 fahre ich ein letztes Mal mit dem
Turnierbus nach Rijeka zur Siegerehrung. Heute gibt es überhaupt keine
Schwierigkeiten, einen Sitzplatz zu finden, denn viele Teilnehmer sind schon
abgereist. Andere legen dagegen keinen Wert darauf, an dieser Veranstaltung
teilzunehmen. Ich denke mir, wenn ich noch da bin, dann gehe ich auch hin.
In der Halle sind alle nötigen Vorbereitungen getroffen. Rednerpult samt
Mikrofone, eine kleine Siegerbühne sowie Plakattafeln mit dem
Turnier-Werbeposter sind aufgebaut. Es sind geschätzte 200 Personen anwesend.
Die Verantwortlichen sprechen nochmals die Reihenfolge der Redner ab, ehe es
kurz nach 20:00 mit der Zeremonie losgeht.
Der kroatische Turnierdirektor Damir Vrhovnik
ergreift das Wort, bedankt sich bei allen Sponsoren, in erster Linie der Stadt
Rijeka, den Hotels, dem Tourismusverband, allen Helfern wie Hostessen und
Schiedsrichtern sowie bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben Rijekas. Er begrüßt die Vertreter aus Politik, Wirtschaft
und der Medien.
Im Anschluss präsentiert er einige interessante Daten und Fakten zum Turnier.
Dabei leuchtet das, was er gerade sagt, an einer großen elektronischen
Anzeigetafel hoch oben an der Wand in englischer Sprache auf. Da ist eine
zweisprachige Ansage oder gar ein Simultanübersetzer überflüssig! Er gibt
beispielsweise bekannt, das 566 Spielerinnen und Spieler aus 41 europäischen
Ländern am Start waren. dass die Remisquote
erfreulich niedrige 32% betrug und dass insgesamt 41 GM- und IM-Normen erspielt
wurden.
440 Teilnehmer/Innen trugen einen der drei FIDE-Titel. Bei den Herren nahmen
196 Großmeister teil, bei den Damen waren 134 von 158 Teilnehmerinnen mit einem
Titel ausgestattet! Die Teilnehmer spielten während der beiden vergangenen
Wochen genau 3078 Partien!
Zudem wartete er mit beeindruckenden Zahlen zur Internetnutzung auf. Insgesamt
gab es während der beiden Turnierwochen mehr als zwei Millionen Seitenaufrufe
aus aller Welt, um in erster Linie die Partien live zu verfolgen, aber auch um
sich ganz allgemein über die Adriaregion zu informieren. Dabei war Donnerstag,
der 11. März mit über 200.000 Aufrufen der stärkste Tag.
Nach etwa zehn Minuten übergibt er das Mikrofon an den Oberschiedsrichter
Mladen Bratovic. Dieser liest ziemlich monoton die
Namen der Damen vor, die einen der Rating-Sonderpreise gewonnen haben. Danach
liest er diejenigen Namen vor, die sich für die Damenweltmeisterschaft
qualifiziert haben. Wiederum leuchten all diese Namen an der Anzeigetafel auf.
Nach vorne kommen die Genannten allerdings nicht. Nur die drei Erstplatzierten
schreiten unter der eingespielten Melodie „Stand up for the champions“
Richtung Bühne und stellen sich dort der Fotografenmeute.
Es gewann zum zweiten Mal in ihrer Karriere die Grand Dame des Frauenschachs,
die allseits beliebte Pia Cramling aus Schweden, vor
der lang gewachsenen Litauerin Viktoija Cmilyte sowie Monika Socko aus
Polen. Als alle drei von den diversen Honoratioren reichlich beschenkt sind,
wird die schwedische Nationalhymne gespielt.
Bei den Herren wiederholt sich praktisch
dasselbe, nur dass hier die Liste der Namen derer, die sich für den Weltcup
qualifiziert hat, deutlich länger ist als bei den Damen. Die drei
Erstplatzierten Ian Nepomniatchchi (RUS), Baadur Jobava (GEO) und Artyom Timofeev (RUS) marschieren
unter derselben Melodie nach vorne, wobei Jobava in eine
große georgische Nationalfahne eingehüllt ist. Er trägt sie mit großem Stolz
und strahlt über das ganze Gesicht. Der Mann hat Nationalstolz, der aber
sympathisch und nicht unangenehm daherkommt. Hätte er an der Bushaltestelle das
Bier weggelassen, hätte er das Turnier bestimmt gewonnen! Alle drei ernten
großen Beifall, insbesondere natürlich von ihren Kolonien im Publikum.
Nachdem der letzte Akkord der russischen Nationalhymne verklungen ist, steht
ein Großteil des Publikums sofort auf und läuft Richtung Ausgang. So muss der
Bürgermeister der Stadt Aix les Bains,
in dessen Heimat die nächste Europameisterschaft stattfinden wird, sein
Grußwort in englischer Sprache vor mehr oder weniger leeren Rängen halten. Kaum
einer hört ihm zu, aber im Grunde hat er auch nicht viel zu sagen. Gegen 20:45
ist die Veranstaltung beendet, und die Teilnehmer streben ein letztes Mal zum
Bus, der sie zurück nach Opatija bringt.
Der Tag wird nicht beendet, ohne einige Partien aus einem der Chessbase Magazine nachgespielt zu haben, die ich übrigens
wärmstens empfehlen kann. Das Material ist aktuell, reichhaltig und qualitativ
äußerst hochwertig. Alle zwei Monate erscheint eine neue DVD.
Freitag, 19.03.2010:
Neun Profis aus dem Teilnehmerfeld reisen heute von Opatija
aus direkt nach Emsdetten zum wichtigen Bundesliga-Wochenende! Die Emsländer
sind Gastgeber für Baden-Baden, Wattenscheid und Heidelberg-Handschuhsheim.
Für Baden-Baden werden antreten: Etienne Bacrot,
Francisco Vallejo-Pons, Arkadij Naiditsch,
Liviu-Dieter Nisipeanu sowie Jan Gustafsson. Die
Konkurrenz hofft, dass die Helden der EM noch müde sind und dadurch vielleicht
eine kleine Außenseiterchance besteht.
Aber auch Wattenscheid sowie Emsdetten greifen auf Profis zurück. Für die Kohlenpotttruppe treten Evgeniy Najer
(RUS) und Mateusz Bartel (POL) an, während Emsdetten seine holländische
Fraktion an die Bretter bringt (Anish Giri, der
Jungstar und Ruud Jansen).
Für die Profis ist es ein Leben aus dem Koffer – modernes Nomadentum.
Ob das auf die Dauer so erstrebenswert ist? Ich bin jedenfalls ganz froh, dass
ich bald wieder in die normale Arbeitswelt zurückkehren kann, so gern ich auch
Schach spiele. Da bin ich ganz Realist.
Nach dem Frühstück winde ich mich nach Kräften, um irgendwie das Kofferpacken
zu umgehen. Eine ganze Weile lang gelingt es mir durch Tagebuchschreiben, aber
gegen 10:30 hilft wirklich gar nichts mehr. Ich krame das Ding hervor und fülle
es mit meinen Habseligkeiten. Kurz nach 12:00 schlage ich mir letztmals den
Bauch am Buffet voll, denn um 12:45 fährt mein Bus nach Zagreb ab.
Überpünktlich um 12:35 fährt ein hochmoderner, fast neuer Reisebus vor und
pickt die restlichen 18 Teilnehmer auf. Die Masse ist bereits am Vormittag mit
drei anderen Bussen abgeholt worden. Ich bedanke mich bei zwei der überaus
charmanten Hostessen, die den Teilnehmern stets mit Rat und Tat zur Seite
standen und nehme Abschied. Nach einer zweieinhalbstündigen Fahrt treffe ich am
Flughafen in Zagreb ein. Innerhalb von nicht einmal 15 Minuten checke ich ein
und überwinde Sicherheitsprozedur sowie Ausweiskontrolle. Das ist der Vorteil
eines kleinen Flughafens. Der Flug über Teile der Alpen bei wolkenfreiem Himmel
dauert gerade mal 45 Minuten. Um 20:05 betrete ich meine Wohnung. Eine
grandiose Schachveranstaltung hat ihr Ende gefunden!
(Stefan
Winkler)