Presseberichte

Eine Olympiade für die Ewigkeit!

Stefan Winkler, 14.12.2008

 

Eine Olympiade für die Ewigkeit!

Großartige Veranstaltung in Dresden – Gigantisches Rahmenprogramm

 

Schach total! Vom 12.11. bis zum 25.11.2008 fand in Dresden eine wahrhaft große Veranstaltung statt, die von künftigen Ausrichtern nur ganz schwer zu überbieten sein wird. Zur Verdeutlichung einige Zahlen: Insgesamt gab es 2169 Teilnehmer, davon 1270 Schachspielerinnen und Schachspieler, 110 Schiedsrichter, Trainer und Betreuer sowie Offizielle des Weltschachverbandes FIDE. Sie kamen aus 141 Ländern. 722 Männer stellten 146 Mannschaften und 548 Frauen 111 Teams. Sie spielten gemeinsam insgesamt 5060 Partien!

 

Noch beeindruckender als die nackten Zahlen war der Blick von der Tribüne auf die gewaltige Teilnehmerschar. Das Internationale Congress-Zentrum (ICD) präsentierte sich als idealer Austragungsort. Der große Spielsaal bot alles, was für Schachspieler wichtig ist: optimale Lichtverhältnisse, gutes Lüftungssystem, Lärm schluckenden Parkettboden sowie leise schließende Türen. Die Spitzenbegegnungen wurden mittels Beamer und Riesenleinwänden im Spielsaal für die Zuschauer sichtbar gemacht. Zusätzlich gab es in der mittleren Ebene eine ganze Reihe von Bildschirmen, auf denen weitere Begegnungen live verfolgt werden konnten.

 

Es war in vielerlei Hinsicht eine Rekordolympiade. 150 freiwillige Helfer, 250 Medienvertreter und nicht zuletzt 200 Teilnehmer des FIDE-Kongresses trugen ihren Teil zum Gelingen des Gesamtpakets bei. An den Wochenendtagen pilgerten satte 3000 zahlende Zuschauer ins Kongresszentrum, für Schach eine geradezu utopische Zahl! Insgesamt strömten mehr als 20000 Besucher zu den Schachstars der Welt und füllten die Kassen der Veranstalter mit einer niemals erwarteten Summe von weit über 100.000,-. Das Konzept mit moderaten Eintrittspreisen ist voll aufgegangen.

 

Die Räumlichkeiten auf den insgesamt drei Ebenen des Kongresszentrums boten reichlich Platz für eine Fülle von Rahmenturnieren als da waren: Seniorenturnier, Deutsche Ländermeisterschaft, Tandemturnier, Familienturnier, Internationales Jugendcamp (Training), Grundschul-Schachturnier (459 Teilnehmer!), Journalisten-Blitzturnier sowie tägliche allgemeine Blitzturniere.

 

Und dann gab es ein Turnier für Hörgeschädigte und Gehörlose, veranstaltet vom rührigen Dresdner Gehörlosen-Sportverein. Voraussetzung für eine Teilnahme sind mindestens 55 Dezibel Hörverlust auf dem „besseren“ Ohr. Immerhin fanden sich 21 Teilnehmer mit dieser Voraussetzung ein. Manchmal wäre es hilfreich, nicht allen Lärm mitzubekommen, der produziert wird… http://www.dresden2008.de/site/de/rahmenturniere/main.htm

 

Zusätzlich gab es einige Stände, an denen Schachmaterial aller Art verkauft wurde, Stände der Bewerberstädte für die übernächste Olympiade 2012 (Zuschlag nach 2000 schon wieder für Istanbul!), den DSB-Stand, Werbestände der Sponsoren und nicht zuletzt mehr als 150 (!) Analysebretter, die auch stark frequentiert wurden.

 

Die 45. Auflage der Schacholympiade wird als Reformolympiade in die Geschichte eingehen. Es gab einige bemerkenswerte Regeländerungen und Neuerungen: So durfte vor dem 30. Zug kein Remisangebot ausgesprochen werden, eine Regel, die Alexander Morozewitsch (RUS) in seiner Partie gegen Jan Gustafsson (GER) ungestraft missachtete.

 

Des Weiteren wurde die Rundenanzahl aus Kostengründen von 14 auf 11 reduziert, die Mannschaftspunkte sind wieder das Kriterium Nummer eins, die Damenteams wurden auf vier Spielerinnen aufgestockt, und die Ersatzspieler auf einen Akteur begrenzt. Die wichtigste Neuerung war aber, dass die Spieler zum vereinbarten Spielbeginn am Brett erscheinen mussten. Andernfalls wurde die Partie mit Verlust für den nicht erschienenen Spieler gewertet!

 

Levon Aronian, der Topspieler der siegreichen Armenier, konnte sich mit der Rundenreduzierung nicht anfreunden. Wie viele andere auch plädiert er für mehr Runden, um ein wirklich gerechtes Endresultat zu erhalten. Ex-Weltmeister Anatoli Karpow äußerte sich deutlich zum Thema Mannschaftspunkte/Brettpunkte: „Es kann nicht sein, dass die Brettpunkte nur noch als viertes und letztes Kriterium für die Rangfolge herangezogen werden.“ Als „Wertung 2“ gilt aktuell die Sonneborn-Berger Wertung, „Wertung 3“ ist die Summe der Matchpunkte mit einem Streichresultat. Da tun sich ja schon Fachleute schwer!

 

Erstmals überhaupt wurden alle Partien zeitgleich im Internet übertragen, was eine gewaltige logistische Aufgabe bedeutete, die aber unter Zuhilfenahme des leistungsfähigen Servers der Universität Dresden bravourös bewältigt wurde. Diese technische Meisterleistung trug maßgeblich zum Gesamterfolg der Dresdner Olympiade bei! Täglich gab es unvorstellbare 70 Millionen Klicks auf die Seiten der Olympiade. Begeisterte Schachfans aus aller Welt hingen während des Ereignisses täglich stundenlang am Bildschirm, um die Partien ihrer Lieblinge zu verfolgen. Ob in Zimbabwe, den Fidschi-Inseln, in Venezuela, Marokko oder Pakistan, Schach ist überall auf dem Erdball vertreten, in aller Munde und höchst populär!

 

Interessant in diesem Zusammenhang ist eine Analyse der internationalen Presse. Unter den fünf Nationen, die die „Veröffentlichungsrangliste“ anführen, sind Nigeria, die USA, Argentinien sowie Indien. Dass aber die meisten Artikel über die Dresdner Olympiade auf den Philippinen geschrieben wurden, ist schon überraschend. Im Heimatland von Ex-FIDE-Präsident Florencio Campomanes wurden mehr als doppelt so viele Berichte veröffentlicht wie in Indien, dem Herkunftsland des aktuellen Weltmeisters Viswanathan Anand.

 

Eigens für die Schacholympiade komponierte der Pianist Wolfgang Scheffler eine Hymne, die in einer Kurzform in Bussen und Bahnen der Dresdner Verkehrsbetriebe zum Turnier erklang! Zusätzlich gab es ein Olympiadelied mit dem Titel „Berührt – geführt“, das vom Titelstar der Rockoper „Jesus Christ Superstar“, Dirk Zöllner, auf der Eröffnungsfeier live vorgetragen wurde. Zudem wurde das Lied zur Einstimmung vor jeder Runde gegen 14:45 im großen Saal eingespielt, leider viel zu laut.

 

Die gesamte Organisation und Planung war im positiven Sinne „typisch deutsch“. Alles war bis ins kleinste Detail durchorganisiert. Das ging sogar so weit, dass mit den Verantwortlichen der Dresdner Verkehrsbetriebe abgesprochen wurde, die Busse und Bahnen, mit denen die Protagonisten zum Spielort gefahren wurden, zeitversetzt im 5-Minuten-Rhythmus anfahren zu lassen, damit nicht alle Teilnehmer gleichzeitig ankommen!

 

Das Rahmenprogramm suchte ebenfalls Seinesgleichen. Die ganze Stadt war vom Motiv Schach geprägt. Zahlreiche Ausstellungen luden zur Besichtigung ein: Schachspiele aus allen möglichen Materialien, in allen Farben, Größen und Formen, eine Sammlung interessanter Zeugnisse und Erinnerungen von Schachpartien, oder der weltberühmte und sagenumwobene „Schachtürke“: für jeden war etwas dabei.

Dass Schach auch für Nichtspieler abendfüllend sein kann, wurde in der Staatsoperette sowie der Semperoper mit dem Musical „Chess“ bewiesen. Außerdem gab es eine Modenschau mit dem Thema Schach. Dazu später mehr…

 

Etwas Historie:

Als im Jahr 1924 in Paris die olympischen Spiele stattfinden sollten, plante der französische Schachbund, parallel dazu einen Schachwettkampf durchzuführen. Die Idee wurde mit Begeisterung aufgenommen, und so fand die erste inoffizielle Mannschaftsweltmeisterschaft statt, von der auf der ganzen Welt unter der Bezeichnung „Schacholympiade“ berichtet wurde. Der Präsident der französischen Schachföderation Pierre Vincent regte die Gründung eines Dachverbandes an und die in Paris 1924 versammelten Spieler erklärten die Gründung der internationalen Schachorganisation „Federation Internationale des Echecs“ – FIDE.

 

1926 wurde auf dem in Budapest stattfindenden FIDE-Kongress ebenfalls ein Mannschaftsturnier veranstaltet. Ein Jahr später, 1927 in London, fand dann die erste offizielle Schacholympiade mit Mannschaften zu je 4 Spielern plus Ersatzspieler – später zwei Ersatzspieler – statt. Anfangs waren die Schacholympiaden reine Männersache. Erst ab 1957 durften auch die Damen teilnehmen. Seit 1976 spielen Damen und Herren die Turniere am gleichen Ort.

 

Von den bisherigen Olympiaden wurden vier in Deutschland ausgetragen: 1930 in Hamburg, 1936 in München (Rumpfolympiade wegen Boykott vieler Länder), 1958 in München, 1970 in Siegen. Der einzige Sieg einer deutschen Auswahl liegt lange zurück: 1939 gewannen die Herren in Buenos Aires (Argentinien) Gold. Im Jahr 2000 gelang Deutschland in Istanbul der zweite Platz und damit der Gewinn der Silbermedaille.

 

Zurück zur Aktualität:

In der mittleren Ebene des imposanten Gebäudes befand sich das Reich von GM Klaus Bischoff, der täglich das Geschehen an den Brettern höchst amüsant und gleichzeitig kompetent einer immer unüberschaubarer werdenden Heerschar von Interessierten vermittelte. Die 150 bereit gestellten Stühle reichten bei weitem nicht aus und an den Rändern und am Gang drängelten sich über Stunden hinweg stehend Massen von Schachjüngern, die nichts von Bischoffs Ausführungen verpassen wollten.

 

Da war öfter die Rede von „den Figuren fremder Leute, die ich immer so gerne opfere“ oder von dem „Gemetzel, das unmittelbar bevorsteht.“ Immer jedoch begeisterte er durch seine lockere, aber gleichzeitig geistreiche Art. Ich hätte ihm noch viel länger zuhören können, als ich es ohnehin schon tat!

 

Deutschland-Cup:

Es war das teilnehmerstärkste Turnier, das jemals in Deutschland in einem Turniersaal stattfand! 822 Spieler kämpften an fünf Tagen in 15 Spielstärkegruppen á 50 – 60 Spieler um Sieg und Ehre. Die Amateure hatten die einmalige Gelegenheit, an den Brettern zu spielen, an denen nachmittags die Olympiateilnehmer agierten.

 

Neben mir spielte aus unserem Club noch unser Spielleiter Uli Sperber in der Gruppe 1700-1800 mit. Die nicht nur von mir ungeliebte FIDE-Bedenkzeitregelung von 90 Minuten für 40 Züge + 15 Minuten für den Rest der Partie zuzüglich 30 Sekunden pro Zug erlaubte es mir nicht, mich auch mal an anderen Brettern umzusehen. Dort waren nämlich einige Schächer aus unserem Kreis aktiv. So blieb es bei der Konzentration auf meine eigenen Partien. Immerhin brachte ich es wie Uli in seiner Gruppe auf 4 Zähler aus 6 Runden, was meine DWZ auf einen Schlag um 30 Punkte auf nunmehr 1872 hochschnellen ließ.

 

Gespielt wurde nach dem „Bad Aiblinger System“, d. h. einer Mischform zwischen K.o- und Schweizer System. Spieler, die in der 1. Runde verlieren, scheiden aus dem k.o-System aus, setzen das Turnier aber im Schweizer System fort. Nach einem Remis entschieden zwei Blitzpartien über das Weiterkommen. Unverständlicherweise wurden die halben Punkte, die zustande kamen, nicht in das Schweizer System übernommen. War ich froh, dass ich die 1. Runde gleich verloren habe, ohne Blitz, denn die Blitzpartien fanden unter tumultartigen Zuständen und bei einer Lautstärke wie auf einem Jahrmarkt statt!

 

Absolut indiskutabel war auch die Regelung, Partien, die nach 13:15 noch nicht beendet waren und sich zu diesem Zeitpunkt in der Verlängerungsphase befanden, zu unterbrechen und im Analysebereich zwei Ebenen weiter oben und in der letzten Ecke des Kongresszentrums fortsetzen zu lassen. Das bedeutete einen fünf- bis siebenminütigen Fußmarsch inklusive Treppensteigen über zwei Ebenen, und das in der Zeitnotphase! Mal ganz abgesehen von der Unzumutbarkeit einer solchen Regelung vergisst ein Spieler doch sämtliche Varianten, die er sich überlegt hat! Andererseits kann ein Spieler, der am Zug ist, versuchen, sich einen Zug zu überlegen, ohne dass es ihn Bedenkzeit kostet. Gott sei Dank ging auch dieser Kelch an mir vorüber!

 

Die Runden begannen täglich bereits um 08:30, ohnehin schon eine knackige Regelung. Die Partien der Olympiade starteten erst um 15:00. Zum Lüften wäre im Ernstfall auch noch um 14:30 Zeit geblieben. Auch die Siegerehrung lief mehr als holprig ab. Langes Warten, bis der nächste Gruppen-Turnierleiter das Wort ergriff, und der Präsident des Deutschen Schachbundes, Prof. Robert von Weizsäcker, verschwand nach der Ehrung eines einzigen Teilnehmers bereits wieder zum nächsten Termin!

 

Am Ruhetag der Olympiade wurden zwei Runden gespielt, da die Bretter der Profis nachmittags nicht benötigt wurden. Die Nachmittagsrunde war auf 15:00 angesetzt. Meine Vormittagspartie war relativ früh beendet, und so sehnte ich den Beginn der Nachmittagsrunde herbei. Doch was war das? Gegen 14:55 wurde der Spielsaal in gedämpftes Licht gesetzt, Musik begann zu spielen und ein Conferencier ergriff das Wort! Models betraten die Bühne und wurden von grellem Scheinwerferlicht angestrahlt. Eine Modenschau mit „Schachkleidern“ begann! Das alles kam völlig unvorbereitet, ohne Vorankündigung!

 

Während ich gerade den Namen meines Gegners in das Partieformular eintrug, malte ich mir aus, dass dieser Alptraum zwei Stunden oder länger dauern würde! Ich saß mit dem Rücken zur Bühne und drehte mich kein einziges Mal um. Gegen 15:22 – ich hab’s noch genau im Kopf – war der Spuk endlich vorbei, und die Partien wurden frei gegeben. Zum Glück waren den Models die Klamotten ausgegangen! Es mag sein, dass manchen Leuten so etwas gefällt, aber dann bitte nicht als Überraschung fünf Minuten vor einer angesetzten Runde ohne Information über die Dauer des Ganzen!

 

Uli Sperber wurde in seiner Gruppe 15. von 58, meine Wenigkeit belegte Rang 16, ebenfalls bei 58 Teilnehmern. http://www.deutschlandcup.org/index.htm

 

Als akkreditierter Journalist hatte ich die einmalige Chance, meinen Lieblingen ganz nahe zu kommen. Und diese Gelegenheit nutzte ich weidlich aus. Gegen 14:30 trudelten die ersten Spieler ein. Darunter war von den „Top-Athleten“ regelmäßig Nigel Short, der getrennt von seinen Teamkameraden eintraf. Die Stars aus Russland, der Ukraine, aus Armenien, den USA oder Ungarn wohnten im nebenan gelegenen Maritim-Hotel und gelangten nicht über den allgemeinen Spielereingang in den Spielsaal, sondern über einen unterirdischen Gang, der das Hotel mit dem Kongresszentrum verbindet! Da dies meist erst um 14:45 herum geschah, verblieb nicht viel Zeit, um die ideale Fotografierposition einzunehmen oder Autogramme zu erhaschen.

 

Als jahrzehntelanger Fußballanhänger war ich nie an Autogrammen interessiert. Bei Schachgroßmeistern ist das ganz anders. Inzwischen habe ich eine respektable Sammlung zusammen getragen, die in Dresden entscheidend erweitert wurde. Die überwältigende Mehrheit der Meister war ganz locker und entspannt. Sie setzten bereitwillig ihre Namen in meine bereitgelegten Bücher. Manche schrieben sogar zusätzlich ihren Namen in Druckbuchstaben. Ausnahmen waren lediglich Wladimir Kramnik, Dmitri Jakowenko (beide RUS) sowie Hikaru Nakamura (USA). Sie verwiesen auf einen späteren Zeitpunkt, nach der Partie.

 

Da insbesondere die Russen sehr unnahbar blieben, gelang es mir nicht, die Autogramme der beiden Genannten zu ergattern. Schon komisch, hatte doch Kramnik in einem Interview vor der Olympiade bemerkt, dass er „die Atmosphäre einer Olympiade mag“ und „dass er auf eine Olympiade nie freiwillig verzichten würde“. Anders als Kramnik mischten sich Veselin Topalov und Ivan Cheparinov, das Brett 2 der Bulgaren, des Öfteren unters gemeine Schachvolk. Auch Levon Aronian und Vladimir Akopian vom Siegerteam aus Armenien traf man nach den Runden so manches Mal in der Lounge.

 

Nach 14:54 bemühte ich mich nicht mehr um Unterschriften, weil ich weiß, dass so etwas in der Phase, in der man sich sammelt, störend ist. Nachdem ich bei Nakamura abgeblitzt war, wartete ich an einem anderen Tag bis zum Ende seiner Partie gegen den Russen Alexander Grischuk. Dummerweise verlor er diese Begegnung, allerdings stand er schon mehrere Stunden mit einer Minusqualität auf Verlust. Keine Minute nach der Aufgabe sprang er die Stufen zur zweiten Ebene herauf, direkt an mir vorbei in die Lounge. Ohne dass ich irgendwelche Anstalten machte, nuschelte er mir zu: „No no, not now!“ Wahrscheinlich hat er noch heute Alpträume von „dem Blonden mit der Brille und dem Buch samt Stift!“

 

Am gleichen Tag hatte GM Yannick Pelletier, das 2. Brett aus der Schweiz, seine Partie beendet und hatte den Spielsaal über die Treppe zur zweiten Ebene verlassen. Seine Unterschrift habe ich übrigens bereits 2006 in Bad Wiessee ergattert. Kurz darauf kam er wieder herein und eilte zielstrebig mit schnellen Schritten die Treppe Richtung Spielsaal herunter. Seine Akkreditierungskarte hing nicht um seinen Hals. Ein junger Ordner erkannte ihn jedoch nicht, breitete seine Arme weit aus, rannte rückwärts (!) die Treppe herunter und versuchte verzweifelt, Pelletier daran zu hindern die Saalebene zu erreichen! Durch ein klärendes Wort Pelletiers wäre die Sache gleich vom Tisch gewesen, aber wie Schachspieler nun mal sind, reden sie nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss! Unbeirrt und eisern schweigend erreichte der Meister sein Ziel, nämlich die Tasche, die noch an seinem Stuhl hing. Er griff sie und sprintete wieder die Treppe hinauf. Ich bemerkte: „Etwas übereifrig, der junge Mann!“ Pelletier: „Ja, ihm ist langweilig. Er hat nichts zu tun!“

 

Der Journalistenschar war es gestattet, bis 15:15, also 15 Minuten nach Rundenbeginn mit Blitz zu fotografieren. Danach mussten sie den Innenraum verlassen. Ab 14:30 ließ ich also die Werbemaschinerie über mich ergehen. Täglich der gleiche Wahnsinn: Viel zu laute Werbespots und das nervtötende Olympiadelied „Berührt – geführt“ dröhnten durch den Saal. Gegen 14:50 ergriff ein deutscher Sprecher das Wort, blökte die Aufstellung der deutschen Mannschaft ins Mikrofon und forderte die Leute auf, „das Team mit einem kräftigen Applaus anzufeuern!“ Ein dünnes „auf-die Hand-Getatsche“ war mühsam zu vernehmen. Einpeitscher beim Schach? Lächerlich und völlig unpassend!

 

Jeden Tag eröffnete ein anderer „Botschafter der Olympiade“ die Runde. Bevor dies geschah, gab es Kurzinterviews mit dem Promis (Felix Magath, Marco Bode, Steffi Jones von der Fußballfraktion, die unvermeidlichen Klitschko-Brüder, die gar nichts mit Schach am Hut haben, Sebastian Krummbiegel von den „Prinzen“, die Legenden Wolfgang Uhlmann und Viktor Korchnoi und andere). Offenbar muss das heute so sein. Immer laut, immer „action“, und das Ganze auf deutsch, wo doch der ganze Saal kein deutsch verstand und sich die Spieler auf ihre bevorstehenden Partien konzentrierten! Dann sprach Oberschiedsrichter Leong aus Singapur: „Round seven, please start!“ Danach ertönte ein durchdringender, ätzender Dreiklanggong als akustisches Zeichen für den Rundenbeginn. Einfach furchtbar!

 

Beeindruckend war für mich Fabiano Caruana (ELO 2640), der neue Superstar der Italiener. Ein sehr sympathischer, ruhiger junger Mann, der mit seinen 16 Jahren am ersten Brett nach einigen Anlaufschwierigkeiten groß auftrumpfte. Zum Beispiel rupfte er nacheinander die Legende Viktor Korchnoi und den Frontmann der Engländer, Michael Adams (2734). Erstmals sah ich den wohl kommenden Weltmeister Magnus Carlsen (17) aus Norwegen. Den Großmeistertitel erwarb er sich mit 13 Jahren und 3 Monaten. Seine Körpersprache am Brett schien zu vermitteln: „Das geht mich alles gar nichts an!“ Ganz locker und scheinbar unbeteiligt saß er auf seinem Stuhl. Aber natürlich war er in jedem Moment voll auf der Höhe und konzentriert bei der Sache! Schade, dass die Norweger keine weiteren Spitzenkönner von seinem Format haben.

 

Ein älterer Herr steht neben mir. Ich schaue auf seine Akkreditierungskarte. Jurij Awerbach! UNGLAUBLICH! Der Endspielpapst! Als wir 1990 mit unserer 10-köpfigen Delegation in Moskau waren, hatten wir die Ehre, zwei Endspiellektionen im Allerheiligsten des russischen Schachs, der Botwinnik-Schachschule, von eben jenem Jurij Awerbach zu erhalten. Ich habe ihn nicht wieder erkannt. Tags darauf „entdeckte“ ich einen der weltbesten Spezialisten für die französische Verteidigung, Lew Psakhis. Er gewann 1979 und 1980 die sowjetische Meisterschaft, einmal zusammen mit Alexander Beljawski, ein Jahr darauf mit einem gewissen Garry Kasparow, den er in der direkten Partie besiegte. 1990 wanderte er nach Israel aus. Heute lebt er wieder überwiegend in Russland. In Dresden war er Kapitän der Inder.

 

Eine ganze Reihe ehemaliger Weltklassespieler fungieren heute als Kapitäne anderer Länder. So coachte der hierzulande allseits bekannte GM Artur Jussupow die Schweizer und wurde regelmäßig zusammen mit GM Viktor Korchnoi bei der Analyse gesichtet. GM Zoltan Ribli, jahrelanger Weltklassemann bei Bayern München, betreute unsere österreichischen Freunde, für die u. a. GM Stefan Kindermann aktiv war, und Ex-FIDE-Weltmeister GM Alexander Khalifman aus Leningrad (1999 bis 2000) war für das Team aus Estland verantwortlich. Der litauische GM Edvins Kengis (ELO 2534) betreut für viel Geld die Vereinigten Arabischen Emirate. Genützt hat es bis jetzt wenig!

 

Am Samstag, den 22.11. gab es im Pressezentrum gleich zwei Ex-Weltmeister zu bewundern. Sowohl die lebende Legende Anatoli Karpow als auch Alexander Khalifman, der den Titel für nur kurze Zeit von 1999-2000 inne hatte, stellten sich den Fragen von Moderatorin Susan Polgar und den versammelten Medienvertretern. Der Präsident des Deutschen Schachbundes, Prof. Robert von Weizsäcker, komplettierte dieses illustre Quartett. Susan Polgar hat einen Amerikaner geheiratet, demzufolge ihren Vornamen von Zsuzsa auf Susan amerikanisiert und lebt heute in Texas, wo sie eine Kinder- und Jugendschachschule betreibt.

 

Von 1996-1999 war sie Damenweltmeisterin. Zur Titelverteidigung konnte sie nicht antreten, da sie gerade Mutter geworden war. Ihre beantragte Terminverlegung wurde von der FIDE nicht akzeptiert. Der Titel wurde ihr aberkannt. In einem Prozess vor dem Internationalen Sportgerichtshof wurden ihr dafür 25.000 Dollar Schadenersatz zugesprochen.

 

Nach einer Reihe von Fragen, die Polgar an die Herren links und rechts neben ihr gestellt hatte, kamen die Journalisten an die Reihe. Ich fragte Karpow: „Herr Karpow, planen Sie, für das Amt des FIDE-Präsidenten zu kandidieren?“ Karpow: „Wissen Sie, das ist nicht so einfach. Die FIDE war zur Zeit von Antonio Samaranch, dem verstorbenen IOC-Präsidenten, schon wesentlich weiter als heute. Wir haben Rückschritte gemacht. Die Verhandlungen sind ins Stocken geraten, und jahrelang ist nichts passiert. Mit einem Beitritt der FIDE ins IOC ist vor 2020 nicht zu rechnen. Man muss in diesen langfristigen Kategorien denken.“ Mit anderen Worten: Seine Antwort lautete NEIN!

 

Ich merkte gleich, dass sich Karpow seit Jahren in der Diplomatie bewegt. Dort schwänzelt man bekanntlich gern um klare Aussagen herum und redet um den heißen Brei. Noch „aussagekräftiger“ war’s bei Alexander Khalifman. Frage eines Journalisten: „Herr Khalifman, sie stammen wie Viktor Korchnoi aus Leningrad. Heutzutage kann Korchnoi seine Heimatstadt wieder besuchen. Haben Sie Kontakt zu ihm und was sagen Sie zu seiner Karriere? Khalifman: „Was soll ich über Korchnoi sagen? Er ist ein guter Schachspieler.“ Aha. Zum Schluss signierten beide Exweltmeister bereitwillig in meinem zweiten Dresdner Autogrammbuch.

 

Zurück zur Arena:

Gefallen haben mir die Franzosen. Sie traten als unauffälliges, aber ausgeglichen besetztes Team auf, meist in dunkelblauen Sweatshirts mit der Rückenaufschrift FRANCE. Von den Armeniern wurden sie mit 0,5:3,5 abserviert, aber ansonsten spielten Bacrot, Vachier-Lagrave, Fressinet und Tkachiev eine gute Olympiade. Maxime Vachier-Lagrave ist ein kleiner, schmalbrüstiger junger Mann, aber er spielt in der Tat tolles Schach! Mit seinen gerade mal 18 Jahren kann er eine ELO Zahl von 2715 vorweisen! Dennoch spielte er hinter Frankreichs Flaggschiff Etienne Bacrot (2705), der über mehr Erfahrung verfügt. Am Ende belegte die Tricolore nur Rang 22, da ihr Brett 4, Vladislav Tkachiev, genullt wurde, vermutlich weil er nicht pünktlich um 15:00 am Brett erschienen war.

 

Starke Auftritte hatte der Kandidatenfinalist Gata Kamsky (USA). Allein wie er in der letzten Runde den ukrainischen Weltklassemann Wassili Ivantchuk besiegte, war schon sensationell! Auch den Russen Peter Svidler, der in Dresden keine besonders gute Form aufwies, schickte er mit einer Null zurück ins Hotel. Kamsky holte am ersten Brett starke 6,5/10 und erzielte eine Performance von 2768. Den Vogel schoss aber Gabriel Sargissian vom Sieger Armenien ab. An Brett 3 erzielte er nicht weniger als 9 Punkte aus11 Partien. Außerdem sicherte er sich Gold für die beste Leistung an Brett 3 und erzielte die beste Turnierperformance aller Teilnehmer mit sagenhaften 2869 Punkten!

 

Deutschland 1 mit Arkadi Naiditsch, der ein starkes Turnier spielte, Daniel Friedman, Jan Gustafsson, Igor Khenkin und David Baramidze mischte lange oben mit, verlor dann gegen Israel und remisierte gegen Polen und landete schließlich auf Rang 13, was keineswegs eine Enttäuschung darstellte. Die meisten Punkte sammelte der aktuelle deutsche Meister Daniel Fridman (7/10).

 

Endergebnis Herren:

http://chess-results.info/tnr16314.aspx?art=0&rd=11&lan=0&fed=GER2&flag=30&m=-1&wi=635&iframe=YES&css=1

 

Beste Spieler:

http://chess-results.info/tnr16314.aspx?art=4&lan=0&fed=GER2&flag=30&m=-1&wi=635&iframe=YES&css=1

 

Ergebnisse Deutschland 1:

http://chess-results.info/tnr16314.aspx?art=20&fed=GER1&lan=0&flag=30&m=-1&wi=635&iframe=YES&css=1

 

Trotz der geschilderten Negativpunkte (auch das so genannte Catering im Kongresszentrum war so gar nicht Olympiade-like) war es insgesamt eine denkwürdige Veranstaltung, die von den Organisatoren auf vorbildliche Weise gemeistert wurde. Mehr Schach ging einfach nicht! Für mich war es jedenfalls der absolute Höhepunkt meiner bisherigen Schacherlebnisse!

(Stefan Winkler)