Presseberichte

Zwiespältige Eindrücke in der Puszta,

Zwiespältige Eindrücke in der Puszta,

Knut Schallöhr, Anton Czarnach und Stefan Winkler auf Open in Balatonalmadi

 

Stuttgart, 28.07., 10:30: Tags zuvor war ich spät abends von einem Kurztrip aus Paris heimgekehrt (keine Schachreise!). Geplant war, dass ich mich am Dienstag, den 29.07. um 23:45 alleine in den Nachtzug von München nach Budapest setze, um am Mittwochmittag um 11:56 in Balatonalmadi am Plattensee einzutreffen. Nun klingelte in Stuttgart das Telefon, und Anton Czarnach, unser Neumitglied, wollte buchstäblich in letzter Minute auf den Zug aufspringen. Das Problem war, dass das Zugticket noch bei Matthias Schäfer in Pforzheim lag und dieser im weiteren Verlauf des Montags nicht erreichbar war.

 

Ein neues Ticket zu kaufen wäre viel zu teuer gewesen, und die Bahn zeigte sich höchst unflexibel. Der Ausdruck eines Zweittickets in München gegen eine Gebühr von ca. 10,- o. ä. wurde strikt abgelehnt. Ohne Originalticket ging gar nichts! Am Dienstagvormittag telefonierten Matthias und Anton ausführlich miteinander. Matthias brachte die Fahrkarte gegen Mittag zum Bahnhof Pforzheim, von wo sie mit dem nächsten Zug nach München weiter transportiert wurde. Diesen „Kurierservice“ ließ sich die Bahn mit 95,- bezahlen, eine bodenlose Unverschämtheit, wie wir fanden! Eine andere Möglichkeit gab es aber nicht. Abends pickte Anton die Karte an einem Abholschalter im Hauptbahnhof München auf, und wir trafen uns um 23:25 an Gleis 14, wo der Zug schon bereit stand.

 

Unsere Platzkarten befanden sich im selben Wagen (!), nur zwei Abteile voneinander entfernt. Zum Glück blieben viele Plätze frei, so dass wir uns gleich zusammen setzten und es uns so bequem wie eben möglich machten. Mit 10-minütiger Verspätung setzte sich der Zug in Bewegung. Als der Schaffner gegen 0:20 vorbei kam, fragte ich ihn, wann denn das Licht ausgeschaltet werden würde. „Gar nicht“, war seine trockene Antwort. Dies sei ein ganz normaler Waggon, und daher sei es „logisch“, dass das Licht die ganze Nacht brennen würde! Aha. Moderne Schaffnerlogik also…

 

Wir kamen uns vor wie bei einem Fußballspiel unter Flutlicht, so hell war es. Zwei dicke Neonröhren durchzogen den gesamten Wagen und durchleuchteten diesen bis in den letzten Winkel. Na prima! Wir ratschten bis ca. 1:00 und wechselten dann erneut die Plätze. Anton hatte immerhin eine Sonnenbrille dabei und machte einen auf Playboy! Selten war ein dunkles Spekuliereisen so sinnvoll wie in diesem Augenblick. Not macht erfinderisch. Also umhüllte ich mein müdes Haupt mit dem beigen Vorhang, der zum Glück vorhanden war. Alles andere als ideal, aber besser als nichts. Um 2:30 fand ich endlich etwas Schlaf. Bis um 7:20 wachte ich zweimal auf, um 4:30 und um 6:30. Es ging also in zweistündigem Rhythmus „voran“. Anton brummte: „Mir tut jeder einzelne Knochen weh!“

 

Zum Glück hatte er sich noch in München eine Flasche Mineralwasser besorgt, ansonsten wäre er dehydriert, denn bis Balatonalmadi gab es keine Gelegenheit, Flüssigkeit zu tanken! Meine Wenigkeit war mit Speis und Trank gut versorgt. Der Zug hatte inzwischen ca. 25 Minuten Verspätung angehäuft, was unsere Sorgen vergrößerte, denn damit schmolz unser Zeitfenster für den Umstieg in Budapest-Kelenföld bedenklich. Gegen 9:25 rief der Schaffner plötzlich „Kelenföld“ aus, jedenfalls glaubte ich, das verstanden zu haben. Wir rafften unser Gepäck und begaben uns verunsichert zum Ausstieg. Glücklicherweise bestätigte uns ein gut deutsch sprechender Ungar in diesem Moment, dass wir tatsächlich in Budapest-Kelenföld eingetroffen waren. Von Budapest war allerdings weit und breit nichts zu sehen. Vielmehr befanden wir uns auf der „grünen Wiese“. Der Bahnhof war kein Bahnhof. Vorhanden waren lediglich Holzverschläge und ein Bahnsteig aus Brettern, denn das Gelände wurde gerade komplett neu gestaltet. Das war auch der Grund, warum kein einziges Schild vorhanden war, das auf Kelenföld hinwies!

 

Weiterfahrt war laut Reiseunterlagen um 9:37. Der ausgehängte Fahrplan gab aber hinsichtlich Zeiten und Zugnummer andere Informationen preis. Anton hatte wiederum andere Daten als ich – Konfusion komplett! Schließlich enterten wir einen ellenlangen Zug, nicht ohne uns beim Schaffner zu vergewissern, dass dieser in Richtung Plattensee fährt.

 

Nun setzte sich die Qual fort, denn die Juckel-Zuckel-Bimmelbahn hielt wirklich an jedem Misthaufen! Schlimmer noch, der Aufenthalt in einigen Dörfern dehnte sich jeweils bis auf stattliche zehn Minuten aus. Höhepunkt waren geschlagene 30 Minuten auf ungefähr halber Strecke. Das zog uns den Rest an Energie aus dem Körper, sofern man überhaupt noch von Energie sprechen konnte. Die kraftvolle Sonne brannte gnadenlos herab und heizte den Zug auf. Klimaanlage? Fehlanzeige. Somit genossen wir ein nettes Überlebenstraining mit Gratissauna. Die ungarische Bahn hat schon etwas zu bieten!

 

Aber dann, gegen 12:38 entdeckten wir ein Schild „Balatonalmadi“. Wir schälten unsere Kadaver aus den Sitzen und sprangen ins Freie. GESCHAFFT – im wahrsten Sinn des Wortes! Verabredungsgemäß wurden wir vom Turnierorganisator abgeholt. Begleitet wurde dieser von einer äußerst charmanten Studentin, die als Dolmetscherin fungierte, denn „der Boss“ sprach kein Wort deutsch. Wir meldeten uns im Spiellokal an, wählten die Speisen unserer gebuchten VP bis zum Turnierende aus und leisteten für alles Vorkasse.

 

Meine Wenigkeit wurde dann samt Gepäck zusammen mit drei weiteren Turnierteilnehmern in einem unklimatisierten Auto der unteren Mittelklasse zur Unterkunft gefahren. Erste Orientierung, Gepäck abladen, die Gastgeber, ein älteres Ehepaar, begrüßt, Schlüsselübergabe und wieder zum Spiellokal zurück. Diese acht Minuten im kochenden Blechesel reichten aus, um mir den Rest an Flüssigkeit aus dem Körper zu ziehen! Derweil wartete Anton im Kulturzentrum und genoss die Klimaanlage in vollen Zügen! Dessen Einquartierung fand erst abends nach der Runde statt, weil seine Teilnahme so kurzfristig erfolgt war.

 

Somit gab es keine Gelegenheit, sich unter die kühlende Dusche zu stellen, oder sich zwecks Entspannung aufs Bett zu legen. Stattdessen lösten wir unsere ersten Kupons beim Mittagessen ein. Aber vor allem taten wir eins: trinken, trinken, trinken.

Gegen 14:30 bei Kaffee und einem weiteren MIneralwasser trafen wir am Spiellokal den Dritten im Bunde, Knut Schallöhr! Großes Hallo und erster Gedankenaustausch.

 

Die 1. Runde war für 16:00 angesetzt. Mit einer erträglichen Verspätung von ca. 20 Minuten ging’s los. 122 Teilnehmer hatten den Weg ins „Pannonia-Kulturzentrum“ von Balatonalmadi gefunden. Von den Eröffnungsansprachen hatten wir überhaupt nichts, denn niemand von uns war auch nur eines einzigen ungarischen Wortes mächtig! Knut und Anton verloren relativ deutlich, während ich unter starken Kopfschmerzen erstaunlich gut loslegte und gegen einen Ungarn mit 2268 ELO eine glatte Gewinnstellung herausspielte. Fast erwartungsgemäß konnte ich diese Position nicht zum Sieg verwandeln, sondern gab ohne Not meine errungene Mehrqualität wieder her. Na ja, egal, ich wollte nur noch etwas essen und dann schlafen gehen! In den Folgerunden bekamen wir es öfter als uns lieb war, mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die einerseits keine ELO-Zahl besaßen, andererseits aber verdammt stark spielten und als wandelnde Theoriebücher auftraten. Die Strategie musste also heißen, möglichst früh von den ausgetretenen Pfaden abzuweichen. Zumindest mir gelang dies teilweise. In einer französischen Partie wich ich im 4. Zug ab, was mein jugendlicher Gegner bei der nachträglichen Analyse als „Fehler“ bezeichnete. Ich klärte ihn dann auf, dass es sich um eine vollwertige Variante handelt, die auch in der Enzyklopädie abgedruckt ist!

 

Knut kam mit diesen „Mini-Schächern“ überhaupt nicht zurecht und hatte zwischendrin kaum noch Lust, gegen diese Theoriehaie ohne Zahl anzutreten (1 aus 4). „Hoffentlich bekomme ich nicht wieder ein Kind!“, war seine Befürchtung vor jeder neuen Runde! Am Ende standen bei ihm 3,5/7, Rang 66 und eine Leistung von 1887 zu Buche, was ihn nicht ganz zufrieden stellte, vor allem die Art und Weise, wie dieses Ergebnis zustande kam.

 

Anton hatte die Befürchtung, gnadenlos abserviert zu werden. Nach drei Runden stand er in der Tat ohne Zählbares da, und er brauchte etwas Trost. Das half, denn in der zweiten Turnierhälfte hatte er sich akklimatisiert und punktete recht fleißig bis zu dem für ihn sehr befriedigenden Ergebnis von 3/7, was ihm den 95. Platz einbrachte. Seine erste Performance betrug beachtliche 1687.

 

Ich selbst hatte wieder mal mit der Bedenkzeitregelung zu kämpfen (90 Minuten für 40 Züge plus 30 Sekunden Zeitgutschrift pro Zug). Ordentliche Leistungen (Sieg gegen ELO 2013) wechselten mit weniger guten Vorstellungen ab. Immerhin stimmte die Einstellung, und so konnte ich zwei Verluststellungen durch kämpferischen Einsatz in einen Sieg bzw. in ein remis umwandeln. Bitteres trug sich in Runde 7 zu, in der ich einen älteren Ungarn (ELO 1987) klar überspielte, dann aber an meiner miserablen Technik scheiterte und Bauern um Bauern zurück verlor, bis schließlich ein remisiges Damenendspiel erreicht war. Die Addition ergab ebenfalls 3,5/7. und Platz 60. Damit war ich unzufrieden, obwohl ich eine brauchbare Performance von 1950 gespielt hatte.

 

Negativer Höhepunkt des Turniers war die sogenannte Siegerehrung, die eher an eine Beerdigungszeremonie erinnerte. Balatonalmadi war mein 95. Openturnier, aber so etwas wie dort habe ich woanders nicht annähernd erlebt. Nachdem man den Rest der Teilnehmer glatte 20 Minuten warten ließ, begann der Turnierleiter, ein älterer, weißhaariger Herr, mit monotoner Stimme und dem Temperament eines Regierungssprechers einen Sieger nach dem anderen aufzurufen.

 

Selbst die Geehrten ließen sich von der Grabesstimmung anstecken und schlichen mit ernstem Gesicht und hängenden Schultern nach vorne, um sich die Medaillen und Geldkuverts umhängen bzw. aushändigen zu lassen. Wenigstens zwei der Preisträger waren nicht einmal anwesend! Eine Übersetzung ins Englische oder Deutsche gab es nicht. Dann folgten einige dürre Verabschiedungsworte des Veranstalters. Unrasiert und in einem dünnen Freizeithemd, das über die Hose hing, stellte er sich vor sein Publikum und tat seine Weisheiten kund. Wenn das die Repräsentanten des ungarischen Schachs sind, na dann Gute Nacht! Nach nicht einmal 10 Minuten war der Spuk vorbei!

 

Als die paar Unentwegten bereits Richtung Ausgang strebten, fiel ihm der riesige Fresskorb auf der Bühne auf, den er glatt vergessen hatte. Sichtlich erleichtert stellte er fest, dass der Turniersieger noch da war und überreichte ihm das gute Stück nachträglich. Es war eine einzige Peinlichkeit! Knut bemängelte zu Recht, dass keiner der ausländischen Gäste persönlich verabschiedet wurde. Niemandem von uns wurde eine Wiederkehr im nächsten Jahr schmackhaft gemacht, obwohl man das Turnier nicht zuletzt deshalb veranstaltet, um Touristen und Schachspieler anzulocken. Es ist erstaunlich, dass das Turnier unter diesen Bedingungen bereits zum 13. Mal ausgetragen wurde.

 

Um abschließend auch etwas Positives zu sagen: Wir wurden persönlich am Bahnhof abgeholt, was nicht alle Tage vorkommt. Wir bekamen freien Zutritt zum Strandbad, das gepflegt und sauber war, genau wie der See selbst, und man bemühte sich hinsichtlich geeigneter Unterkunft, auch wenn es einige Unzulänglichkeiten gab. (Warum musste beispielsweise meine Hauswirtin unbedingt um 4:00 in der Nacht (!!!) eine Waschmaschine anstellen, die direkt neben meinem Zimmer aufgestellt war? Und warum musste der Hausherr am Sonntagmorgen ab 6:38 wie wild auf sein metallenes Gartentor einhämmern, drei Meter von der Eingangstür zu meinem Zimmer entfernt?).

 

Die Übernachtungs- und Essenspreise waren äußerst günstig. So residierte Knut mit seiner Lebensgefährtin in einer zweistöckigen, voll eingerichteten und klimatisierten Wohnung mit Himmelbett, Küche und Terrasse für fast lächerliche 32,- Euro pro Tag, nicht pro Person!

 

Wir haben aus diesem Ungarntrip gelernt, dass man unbedingt einige Dinge beachten sollte, bevor man sich für ein Turnier anmeldet. Die Preisgelder sollten zumindest so hoch sein, dass die Teilnahme einiger Titelträger wahrscheinlich ist. Das Turnier sollte in den einschlägigen Schachzeitschriften inseriert und wenigstens auf einer Turnierseite im Internet gelistet sein. Auf der Seite des Turniers sollte eine Teilnehmerliste des Vorjahres stehen, um sich zu orientieren. Drei Tage nach Turnierende sollte das Endergebnis mit entsprechenden Tabellen und Statistiken auf der Turnierseite zu finden sein. Im vorliegenden Fall trifft das leider nicht zu. http://fancsyimi.fw.hu/

 

Trotz allem haben wir versucht, die gesamte Reise positiv zu sehen. Wir konnten immerhin unserem Hobby frönen, und das zu günstigen Preisen. Und auch das Essen war durchweg gut.

(Stefan Winkler)